Page - 333 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Nachsatz
Die Ambivalenz der modernen Kultur und Zivilisation hatte sich für Berthold
Viertel mit dem Ersten Weltkrieg nicht aufgelöst. Es war keineswegs, wie vor-
hergesehen, zu einer »Tabula rasa« oder zu einer grundlegenden Erneuerung
gekommen. Allein das Janusgesicht der Moderne war sichtbarer geworden, die
»Fiktion unserer Zivilisation« durchbrochen worden und der »Grundsatz der
brutalen Gewalt offen eingeführt«1. »Wer damals erwachsen war […] kann nicht
vergessen haben, welche Erschütterung des Kulturbewusstseins da geschah.«2
Als Viertel zwischen 1906 und 1953 immer wieder Anläufe unternahm, seine
Autobiografie zu schreiben, interessierte ihn speziell dieses »Kulturbewusstsein«
Österreichs in seinen verschiedenen Formen und Verwandlungen. Er empfand
sich in der Behandlung seiner autobiografischen Fragestellungen zum einen als
durchaus »charakteristisch« für »seine Klasse und seine Generation«3 und zum
anderen als durchaus unsentimental :
Der in Wien heranwachsende Knabe wird in den Erlebnissen geschildert, die seinen
Charakter und seine Weltanschauung bilden. Die Schilderung ist nicht sentimental,
das Soziale und Politische spielt überall hinein, die Entwicklungslinie wird aufgezeigt,
die, über das Individuelle hinaus, erst heute ganz gesehen und verstanden werden kann,
die in der heutigen Wiener- und Welt-Situation mündet und dadurch jetzt wieder
eine aktuelle erregende Bedeutung hat.4
Damit stand er in direktem Gegensatz zu Stefan Zweigs nostalgisch-romanti-
scher Darstellung der Zeit um 1900 als »goldenes Zeitalter« – obwohl er sich
nie explizit gegen seinen Freund positionierte. Viertel ging es darum, in seiner
Autobiografie »kritische Modernität« zu fassen und zu beschreiben, wie diese
und ihre Gegenpole auf ethnische, soziale, nationale, ideologische und durch
Geschlechterhierarchien bestimmte Konflikte im Wien um 1900 reagierten.
Aufgrund ihrer Komplexität und aufgrund der Fragmentierung seines autobio-
grafischen Schreibens waren diese Themen allerdings viel schwerer aufzuneh-
1 BV, o.T., o.D., o.S., K14, A : Viertel, DLA.
2 BV, Gedanken zum Council for a Democratic Germany, o.D., 69.3143/26, K25, A : Viertel, DLA.
3 BV, o.T. [2.], in : Arbeits-/Notizheft 1947
– Autobiographisch
– Gedichte, 1947, 69.3142/38, K24,
A : Viertel, DLA.
4 BV, Die Stadt der Kindheit, o.D. [nach 1949], o.S., NK09, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359