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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Nicht ohne Eigeninteresse fügte er noch als Draufgabe hinzu, dass die Bundes-
deutschen „eine Neutralisierung Deutschlands weder für möglich noch für wün-
schenswert“43 hielten. Interessanterweise sprach Gruber nur von Neutra lisierung,
nicht aber von Neutralität. Er knüpfte vollständig an die Adenauer-Rhetorik an.
Wien befürwortete aus ureigenstem Interesse die „Normalisierung“44 der Be-
ziehungen und die Intensivierung der wirtschaftlichen Kooperation mit der
Bundesrepublik als Mittel zur Stärkung der territorialen Integrität und nationa-
len Konsolidierung.45
Im Nationalratsklub der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) bemerkte Gruber
nach seiner Rückkehr aus Bonn auf die Frage nach der Lebhaftigkeit des An-
schlussgedankens in Deutschland, „daß dieser Wunsch bei den Deutschen ver-
mutlich immer vorhanden sein wird“. Er habe aber den Eindruck, „daß die deut-
sche Regierung den Anschluß nicht durchführen wird“ (!), wohingegen er auf
dem Standpunkt „kein Anschluß, aber auch keine chinesische Mauer“ stehe.46
Da durch das Veto der Sowjetunion noch keine diplomatischen Dienststellen
errichtet werden durften, einigte man sich in Bonn darauf, noch im selben Jahr
Handelsdelegationen einzurichten. Die deutsche Wirtschaftsdelegation in Wien
wurde mit Carl Hermann Mueller-Graaf besetzt. Er hatte die Aufgabe, unter
dem „Deckmantel“ dieser Handelsdelegation, einen diplomatischen „Routine-
betrieb“47 in Österreich aufzubauen, ohne die Sowjetunion zu weiteren „An-
schluß“-Verdächtigungen zu veranlassen. Der österreichische Vertreter in Bonn,
Adrian Rotter, konnte sich dagegen freier bewegen. Seine Mission wurde am
2. April 1954 in „österreichische Vertretung“ umbenannt. Beide Staaten bemüh-
ten sich, die Beziehungen untereinander so natürlich wie möglich zu gestalten.
Außenminister Leopold Figl, der Gruber im Amt gefolgt war, pflegte von „freund-
schaftlicher Nachbarkeit“ zu sprechen.48
Das Jahr 1955 stellt dann eine Zäsur in der Geschichte des Dreiecksverhält-
nisses Bonn, Ost-Berlin und Wien dar. Die Bundesrepublik war der NATO bei-
getreten. Österreich hatte durch den Staatsvertrag (abgesehen von den im Vertrag
43 Reinhard Bollmus, Die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich 1950–1958.
Stationen einer skeptischen Freundschaft, in: Christliche Demokratie 1 (1983) 3, S. 9–23, hier
S. 14; zur Geschichte und Problematik von Neutralisierungskonzepten vgl. Andreas Hill-
gruber, Alliierte Pläne für eine „Neutralisierung“ Deutschlands 1945–1955 (Rheinisch-West-
fälische Akademie der Wissenschaften Vorträge G 286), Opladen 1987, S. 5–31.
44 So lauteten die Pressekommentare: Neues Österreich, 20. Mai 1953; Wiener Kurier, 21. Mai
1953.
45 Vgl. die Replik des Außenministers auf VdU-Positionen Anfang des Jahres: „Dr. Gruber ant-
wortet dem VdU“, 29.1.1953, in: Michael Gehler (Hg.), Karl Gruber. Reden und Dokumente
1945–1953. Eine Auswahl (Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, Arbeitskreis
Europäische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen 2), Wien / Köln / Wei-
mar 1994, S. 418.
46 Protokoll über die 8. Sitzung des Nationalratsklubs der ÖVP, 27. Mai 1953. Archiv des Karl-
von-Vogelsang-Instituts, Ordner NR-Klub 1953.
47 Engelbert Washietl, Österreich und die Deutschen, Wien 1987, S. 62.
48 Ebd., S. 63.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99