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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
„Der Autor des Aufsatzes meint abschließend, es wäre nur begrüßenswert, wenn sich
Österreich für die Schaffung eines ‚einheitlichen, friedliebenden und demokratischen‘
Deutschlands einsetzen würde, aber es sei bezeichnend, daß der Herr Bundeskanzler
bei Abfassung seines Vorschlages nur die Bundesrepublik und nicht auch die DDR kon-
sultiert habe. Wenn der Herr Bundeskanzler einen konstruktiven Beitrag zu Deutsch-
landfrage leisten wolle, dann möge er sich dafür einsetzen, daß die Frage eines deut-
schen Friedensvertrages auf der Gipfelkonferenz behandelt werde.“67
Hiermit war die Beschäftigung der DDR mit dem Raab-Plan abgeschlossen.
Die Sowjetunion bediente sich, nach einer im September 1958 ergangenen ein-
schlägigen diplomatischen Note an die Bundesrepublik, im November des öster-
reichischen Botschafters in Moskau, Norbert Bischoff, um mit dem bundesdeut-
schen Botschafter Hans Kroll in der deutschen Frage Fühlung zu nehmen. Via
Bischoff wurde die Idee lanciert, nach dem österreichischen Beispiel von 1955,
Direktverhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion auf-
zunehmen. In einer von Bischoff an Kroll übergebenen Notiz vom 22. November,
die von vom sowjetischen Außenminister Andrej A. Gromyko stammte, griff
der Kreml das österreichische Beispiel auf und ließ im Kontext bzw. Vorfeld des
Berlin-Ultimatums von Chruschtschow wissen: „Sollte die Bundesregierung der
Bundesrepublik es wünschen, so könnte sie […] dem Beispiel der österreichischen
Regierung folgen“. Das seit 1955 neutrale Österreich sollte offensichtlich zu Ver-
mittlungen herangezogen werden. Den Moment dieser sowjetischen Fühler be-
zeichnete Kroll so, „daß der jetzige Augenblick vermutlich die letzte Gelegenheit
ist, um ein Gespräch mit der Sowjetunion über die deutsche Frage aufzunehmen“,
sonst müsse man mit „dem endgültigen Verlust der Zone an die Sowjetunion
rechnen“. Die bereits parallel dazu von Chruschtschow ausgelöste Berlin-Krise
überschattete dann allerdings diese Initiative, die von Adenauer, der nicht an
Zugeständnisse Moskaus glaubte und amerikanisches Misstrauen in diesem Zu-
sammenhang fürchtete, abgelehnt wurde.68
Wenig später sollte Österreich jedoch erneut als „Vermittler“ ins Spiel kom-
men. Chruschtschow versuchte mehrmals über den zu diesem Zeitpunkt noch
als Staatssekretär im österreichischen Außenamt fungierenden Bruno Kreisky,
mit dem seit 1957 als West-Berliner Bürgermeister amtierenden Willy Brandt
einen Kontakt herzustellen. Im März 1959 kurz nach dem Angebot der West-
mächte zu einer Außenministerkonferenz in Genf unter Beteiligung von Bundes-
republik und DDR startete Chruschtschow seine Initiative. Brandt hatte derartige
Gesprächsabsichten im Herbst 1958 gegenüber Kreisky angedeutet. Im Frühjahr
1959 regte Kreisky in einer Rede und in einem Artikel in der Arbeiter-Zeitung ein
Sonderstatut für ganz Berlin an. Von sowjetischer Seite dürfte vermutet worden
sein, dass die Idee von Brandt stammte und man versuchte, über Kreisky ein
67 Generalkonsul Thalberg an BM Figl, 5. August 1958, Zl. 17-Pol/58, Österreichisches Staats-
archiv (ÖStA), Wien, Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt / Auswärtige Angelegen-
heiten (BKA / AA), II-Pol 1958, Politische Berichte Berlin 1958.
68 Siehe dazu: Gehler, Modellfall für Deutschland?, S. 1212–1215.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99