Page - 26 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
Image of the Page - 26 -
Text of the Page - 26 -
26
Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Nachdem Péter seiner Meinung Ausdruck gegeben hatte, „dass die Lösung des
Problems der deutschen Frage nur durch eine Annäherung zwischen der BRD und
der DDR“ erfolgen könne, sagte Kreisky:
„Wenn wir hier schon so offen sprechen, will ich meiner persönlichen Meinung Aus-
druck geben, dass sich eine interessante politische Entwicklung in der BRD anbahnen
wird, wenn es zu einem politischen Gleichgewicht der beiden Parteien kommen wird.
Und damit wird sich eine neue politische Situation ergeben. Vielleicht wird das zu einer
grösseren Koalition führen, was man nicht ausschliessen kann. Dann würde es sicher
zu einer Veränderung in gewissen Fragen kommen, zu einer Auflockerung und zwar
nicht aus idealistischen Gründen, sondern weil eine Regierung, die eine starke parla-
mentarische Grundlage hat, in aussenpolitischen Fragen sehr stark ist, weil sie nicht
riskiert, dass eine andere politische Partei daraus Kapital schlägt. Wäre das nicht im
Jahre 1955 in Österreich der Fall gewesen, so weiss ich nicht, ob nicht eine andere Partei
am Staatsvertrag etwas auszusetzen gehabt hätte. Eine andere Aussenpolitik, die über
die verschiedenen Nuancen hinausgeht, kann nur von einer Regierung geführt wer-
den, die nicht Gefahr läuft, dass eine andere Partei bei den kommenden Wahlen daraus
Kapital schlägt.“82
Damit gab Kreisky eine weitsichtige Prognose zur Entwicklung der „neuen“ Ost-
und Deutschlandpolitik bereits unter der ab 1966 regierenden großen Koalition
unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Außenminister Willy
Brandt (SPD) ab.
Die DDR, wie auch die Sowjetunion – diese wie jede andere Macht jedoch stets
im Rahmen ihrer eigenen Interessen – hatten beständig darauf insistiert, dass
die österreichische Neutralität entsprechend der sowjetischen Neutralitätskon-
zeption eigentlich eine Anerkennung beider deutscher Staaten verlangen würde.
Wien positionierte sich in der deutsch-deutschen Konstellation einseitig pro-
westlich
– wie die anderen Neutralen außer dem etwas sowjetabhängigeren Finn-
land, das gleich beide deutschen Staaten nicht anerkannte. Österreichs Politik
hinsichtlich der geteilten Staaten war jedenfalls konsequent, da jeweils nur die
nichtkommunistische Hälfte anerkannt wurde. Freilich war auch deren demo-
kratische Legitimierung bei den außereuropäischen Fällen mitunter fragwürdig.
Diese Haltung weichte erst ab 1971 auf, als Österreich die Volksrepublik China
anerkannte.83
82 Ebd.
83 Siehe zu den außereuropäischen Beispielen, stets mit Vergleich zur DDR: Wolfgang Mueller /
Maximilian Graf, An Austrian mediation in Vietnam? The superpowers, neutrality, and Kurt
Waldheim’s good offices, in: Sandra Bott / Jussi Hanhimaki / Janick Schaufelbuehl / Marco Wyss
(Hg.), Neutrality and Neutralism in the Global Cold War. Between or within the blocs?,
London 2016, S. 127–143; Maximilian Graf / Wolfgang Mueller, Austria and China 1949–89:
A Slow Rapprochement, in: Valeria Zanier / Marco Wyss / Janick Schaufelbuehl (Hg.), The
Smaller European Powers and China in the Cold War, 1949–1989 (erscheint 2018).
back to the
book Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99