Page - 30 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
zur österreichischen Ostpolitik gesehen wurde.95 Gelegentlich wurde die öster-
reichische Form der Ostpolitik sogar als Vorbild für deren westdeutsche Ausfor-
mung betrachtet,96 wobei die Problematik einer Überbewertung der Rolle Öster-
reichs besteht. Im Bonner Auswärtigen Amt finden sich in jenen Jahren keine
Hinweise auf eine derartige Vorbildwirkung, gleichwohl die Akten nicht immer
alles enthalten und die Gläubigkeit an sie nicht zu weit gehen sollte. Eine sol-
che kann daher nur informell oder durch direkte Kontakte zwischen den politi-
schen Akteuren zustande gekommen sein.97 Inwieweit der persönliche Austausch
zwischen österreichischen und westdeutschen Politikern in die Gestaltung der
„neuen Ostpolitik“ einfloss, ist jedenfalls nicht hinreichend erforscht. Wien als
Informationsquelle, Orientierungs- und Referenzpunkt für Bonn sollte nicht un-
terschätzt werden. Jedenfalls maß sich Bruno Kreisky aufgrund seiner engen Be-
ziehungen zu Willy Brandt durchaus eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der
„neuen Ostpolitik“ bei. In einem Gespräch mit einem ostdeutschen Diplomaten,
das er 1967
– die SPÖ war in Opposition
– führte, betonte Kreisky, dass er „seinem
Freund Brandt“ bereits früh die Notwendigkeit der Entwicklung der Beziehungen
zu den sozialistischen Staaten dargelegt habe. Des Weiteren bekräftigte er sein
Eintreten für eine Politik der Entspannung und ging sogar so weit, sich selbst als
den „Initiator der Entspannungspolitik nach dem Osten“ zu bezeichnen.98 Wei-
tere Aussagen Kreiskys, die in diese Richtung weisen, sind überliefert.99
Der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR wurde
am 21. Dezember 1972 unterzeichnet. Für einen neutralen Staat wie Österreich
war es nicht inkonsequent, bereits am gleichen Tag die diplomatische Anerken-
nung des zweiten deutschen Staates zu vollziehen.100 Seitens der Bundesrepublik
wertete man diesen Schritt auch unaufgeregt. In Bonn war man sich darüber
im Klaren, dass Österreich „nach Unterzeichnung des Grundvertrags auch zur
95 Dazu ausführlich und im Vergleich mit den anderen neutralen Staaten: Graf, Österreich und
die DDR, S. 274–318.
96 André Biever, L’Autriche et les origines de l’Ostpolitik de la République fédérale d’Alle-
magne, in: Relations Internationales 114 (2003), S. 213–230. Gehler, Österreichs Außenpoli-
tik, S. 297–300.
97 Karl-Günther von Hase, im deutschen Bundeskanzleramt 1962–1967 und später als Chef des
Presse- und Informationsamtes der deutschen Bundesregierung tätig, berichtete bei einer
Zeitzeugen-Konferenz am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz 1993, dass die Wiener
Ballhausplatz-Diplomatie in den 1960er-Jahren mehrfach wertvolle Kanäle für die Bundes-
republik in den Staaten Mittel- und Osteuropas öffnete und man in Bonn wiederholt auf
die „Osterfahrung“ der österreichischen Außenpolitik rekurrierte. Mitteilung an Michael
Gehler.
98 Zusammenfassender Bericht über die Kontakte des Leiters der Abteilung Westeuropa, Ge-
nosse Dr. Oeser, während der Dienstreise nach Österreich in der Zeit vom 12.–17. Juni 1967,
gezeichnet Oeser, Berlin, 19. Juni
1967, PA / AA, MfAA, C 143/70, Bl. 14–25.
99 Siehe dazu: Graf, Österreich und die DDR, S. 422–424.
100 Zur Anerkennung siehe: Enrico Seewald, Im Windschatten der Ostpolitik. Die Aufnahme di-
plomatischer Beziehungen zwischen der DDR und Österreich, in: Zeitschrift des Forschungs-
verbundes SED-Staat 23/2008, S. 17–24.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99