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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Österreichs verstaatlichte Industrie, den westdeutsche Unternehmen bereits un-
ter Dach und Fach geglaubt hatten.116
Während der Kreisky-Aufenthalt in der DDR 1978 seitens des Bonner Aus-
wärtigen Amts noch sehr positiv bewertet wurde,117 kamen anlässlich des Hone-
cker-Besuchs in Wien Zweifel an der österreichischen und insbesondere Kreiskys
Standfestigkeit in der Deutschlandfrage auf.118 Bald aber schwenkten westdeut-
sche Beobachter wieder auf eine wohlwollendere Bewertung der Beziehungen
zwischen Österreich und der DDR um.119
Kreisky war der Auffassung, dass die deutsche Teilung aufgrund der Weichen-
stellungen der Nachkriegszeit trotz aller deklaratorischen und rhetorischen Lip-
penbekenntnisse noch lange anhalten würde, zumal sich die beiden Staaten auf-
grund ihrer Unterschiedlichkeit wechselseitig in ihrer Existenz bedingten, aber
auch aufgrund des wirtschaftlichen Wohlstands der Bundesrepublik. Er hatte bei
seinem Besuch des Vereinigten Königreichs auf Nachfrage keinen Zweifel an der
geringen Aussicht auf eine deutsche Einigung gelassen, was er auf die Grundsatz-
entscheidung des bundesdeutschen Kanzlers Konrad Adenauer aus den 1950er-
Jahren zurückführte. Im Jahr 1978 brachte Kreisky seine Erinnerungen an ver-
trauliche Gespräche mit Adenauer dem britischen Premier James Callaghan
nahe, als dieser ihn gefragt hatte, was denn die westliche Haltung sein sollte, „if
the two Germanys revived the issue of reunification“. Österreichs Bundeskanzler
antwortete:
„As a Catholic, Adenauer had never favoured reunification since he knew that a Cath-
olic majority would be unobtainable in a united Germany. For years everybody had
talked about unification but very few really believed in it. If it became a real issue, the
German people might rally to it; but it was unlikely to figure as an issue at, for example,
the next General Election in the FRG. The FRG was now richer and more influential
than ever before and had no reason to wish for change.“120
Adenauer hatte nach Kreiskys Einschätzung auch ein konfessionelles, parteipoli-
tisches und wahltaktisches Motiv, basierend auf seinen historischen, kulturellen
116 Für den ostdeutschen Besuchsbericht siehe: Bericht über den Staatsbesuch des General-
sekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen E.
Honecker,
vom 10. bis 13. November 1980 in der Republik Österreich, Berichterstatter Erich Honecker,
in: Arbeitsprotokoll der Sitzung des SED-Politbüros vom 18. November 1980 (= Protokoll
Nr. 46/80), SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/1866, Bl. 15–28.
117 Bauer / Seewald, Bruno Kreisky in Ost-Berlin, insbesondere S. 44–46.
118 Vorlage für den Staatssekretär. Staatsbesuch Honeckers in Österreich vom 10.–13.11.1980, ge-
zeichnet Kastrup, Bonn, 21. November 1980, PA / AA, B 38–210, Zwischenarchiv, Bd. 132.449.
Dazu mehr bei Graf, Österreich und die DDR, S. 456–458.
119 Sachstand. Beziehungen Österreich-DDR, 18. August 1982, Bundesarchiv Koblenz, B 136/
20334. Ausführlicher dazu: Graf, Österreich und die DDR, S. 472–475, 485–490
120 Confidential Record of the Prime Minister’s discussion with the Chancellor Kreisky of Aus-
tria, in plenary session at 10 Downing Street on 4 July 1978, AT 1725. The National Archives
of the United Kingdom (TNA), London-Kew, Visit of Dr. Kreisky, Chancellor of Austria, to
UK, July 1978, FCO 33/3367.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99