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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
folgtes Ziel, das nach Kreditgewährungen durch Österreich Realität wurde und
den wechselseitigen Reiseverkehr deutlich ausweitete. Insgesamt bildete sich ein
Verhältnis heraus, dass das Niveau der Beziehungen Österreichs zu vielen west-
lichen Staaten bereits überstieg. Grundlage hierfür war nicht nur das im Vergleich
zu anderen Staaten entspannte Verhältnis an der Grenze, sondern auch der als
„Gulaschkommunismus“ bekannt gewordene
– und von Österreich wohlwollend
bewertete
– ungarische, etwas lockerere Weg im sozialistischen Lager sowie die in
den 1980er-Jahren einsetzenden, zunächst vor allem wirtschaftlichen Reformen.
Ab 1988 erhöhte sich das Tempo der Veränderungen in Ungarn dann rasant. Aus-
druck hierfür war auch die seit Jahresbeginn gewährte Reisefreiheit.165
Ab dem 1. Jänner 1988 hatte jeder ungarische Staatsbürger Anspruch auf den
sogenannten „Weltpass“. Mit diesem konnte man das Land jederzeit, ohne die
früheren Einschränkungen verlassen und, was im Ostblock ebenfalls nicht selbst-
verständlich war, man durfte auch jederzeit wieder zurückkehren. Bisher nicht
bekannt war, dass das ungarische Politbüro die Frage der Reisefreiheit ausgehend
von dem österreichischen Ansinnen, ein Abkommen über den kleinen Grenzver-
kehr zu schließen, diskutierte. Ein solches Abkommen wurde mit der Gewährung
der Reisefreiheit überflüssig. Bald entstand ein echter Reiseboom. Bereits im Jahr
1988 überschritten Millionen Ungarn die Grenze zu Österreich und nutzten ihre
Ausflüge in den Westen primär zum Einkaufen. Der Einkaufstourismus hatte ne-
ben dem grenznahen Gebiet größtenteils Wien zum Ziel. Die relativ plötzlich über
Wien hereinbrechende Welle von Ungarn führte dazu, dass die bekannte Wiener
Einkaufsstraße namens „Mariahilferstraße“ von spöttelnden Einheimischen als
„Magyarhilferstraße“ bezeichnet wurde. Am stärksten betroffen war aber das
Burgenland. Ohne den zwei Jahrzehnte andauernden Prozess, der zu einer zu-
nehmend durchlässiger werdenden Grenze führte, sind die rasanten Entwick-
lungen des Jahres 1989 nicht zu verstehen. Endgültig möglich wurden sie schließ-
lich nicht zuletzt aufgrund der innerungarischen politischen Veränderungen.
Im Frühjahr wurde nach vorheriger Ankündigung im Rahmen eines Treffens
der Regierungschefs Miklós Németh und Franz Vranitzky mit dem Abbau der
technischen Grenzsperren an der österreichisch-ungarischen Grenze begonnen.
Die Bilder von den Abbrucharbeiten, von Alois Mock und Gyula Horn bei der
inszenierten Durchschneidung des Eisernen Vorhangs am 27. Juni 1989166 und
jene vom sogenannten „Paneuropäischen Picknick“ am 19. August 1989 waren
hochgradig dafür verantwortlich, dass sich die Fluchtbewegung der DDR-Bürger
165 Hierzu und zum Folgenden: Maximilian Graf, Eine neue Geschichte des „Falls“ des Eisernen
Vorhangs. Die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze 1989 in Langzeitperspektive
und ihre unmittelbaren Folgen für die DDR, in: Jahrbuch für Mitteleuropäische Studien
2014/2015, Wien 2016, S. 347–371; idem, The opening of the Austrian – Hungarian border
revisited. How European détente contributed to overcoming the „Iron Curtain“, in: Bernhard
Blumenau / Jussi M.
Hanhimäki / Barbara Zanchetta (Hg.), New Perspectives on the End of the
Cold War. Unexpected Transformations?, London 2018, S. 139–158 .
166 Zu den Gesprächen Mock – Horn am Vortag der Entstehung der Bilder siehe Dok. 45.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99