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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
tischen Wahlkampf ihren Stimmanteil verdoppelt. Den Grünen gelang erstmals
der Einzug in den Nationalrat. Im Januar 1987 wurde nach über zwanzig Jahren
erneut eine große Koalition unter Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) gebildet.
Österreichs Außenpolitik wurde seitens bürgerlich-konservativer Seite von Alois
Mock (ÖVP) übernommen und im Wesentlichen auf westeuropäische Belange
konzentriert.201 Vor diesem Hintergrund schickte sich Österreich an, ein engeres
Verhältnis zu den Europäischen Gemeinschaften anzustreben.
Mock hatte ein sehr gutes Arbeitsverhältnis zum deutschen Bundeskanzler
Helmut Kohl, der dem österreichischen Integrationsanliegen schon sehr früh
wohl gesonnen gegenüberstand. Es setzte am Ballhausplatz zunächst eine be-
trächtliche Europäisierung der österreichischen Politik ein, was sich durch eine
breitere Europa-Berichterstattung in den Medien und in deren Folge auch durch
eine Internationalisierung der öffentlichen Debatte manifestierte. Sodann er-
folgte eine gezielt angestrebte Anpassung des österreichischen Rechtssystems an
den gemeinschaftlichen Rechtsbestand (acquis communautaire), welcher zuneh-
mend wichtiger werden sollte als die nationale Gesetzgebung. Weiters wurden mit
dem intensivierten Integrationsprozess notwendige Reformimpulse für das poli-
tische System gegeben, die langfristig nicht nur zu einer Veränderung von öster-
reichischen Institutionen führen, sondern auch bereits zur dringend gewordenen
Budgetsanierung beitragen sollten.202
Der nach den Annäherungen an die Europäischen Gemeinschaften in den
1970er-Jahren nun tatsächlich einsetzende Aufbruch Österreichs nach Europa bis
zum EU-Beitritt kann mit fünf Schritten gekennzeichnet werden: 1. Intensivie-
rung der Debatte über die EG in Österreich korrespondierend mit einer Europä-
isierung der innerösterreichischen politischen Diskurse und der Artikulation des
Partizipationsdesiderats (1987–1989), verbunden mit dem „Brief nach Brüssel“
(Beitrittsantrag) vom 14. Juli 1989, überreicht am 17. Juli; 2. Evaluation des Bei-
trittskandidaten durch Avisierung der Kommission (1989–1991); 3. Antizipation
und Implementierung des acquis communautaire (1990/91–1994); 4. Kommuni-
kation in formellen Verhandlungen mit der EG / EU (1993–1994); 5. Aufnahme in
die Europäische Union (ab 1. Januar 1995).203 Zurück in das Jahr der Bildung der
Großen Koalition.
Nicht zuletzt aufgrund der watch list-Entscheidung der USA im April 1987
kam Bundeskanzler Vranitzky mehr außenpolitische Verantwortung zu, der die
internationale Ächtung und außenpolitische Isolation Waldheims – er erhielt
während seiner Amtszeit von 1986 bis 1992 keine Einladung zu einem offiziellen
Staatsbesuch aus einem Land des Ostens und des Westens
– dazu nutzen konnte,
sich vermehrt internationales Ansehen zu erwerben. Das Bild Österreichs hatte
hingegen gelitten – auch in der Bundesrepublik. Botschafter Friedrich Bauer be-
richtete im Sommer 1987 nach Wien:
201 Siehe hierzu zusammenfassend: Gehler, Österreichs Weg, S. 102–106.
202 Gehler, Vom Marshall-Plan zur EU, S. 167–170, 181–187.
203 Ebd., S. 209.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99