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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Bundeskanzler Vranitzky besuchte vom 4. bis 6. November
1987 offiziell die Bun-
desrepublik. Die Notwendigkeit der skizzierten integrationspolitischen Schritte
ließe sich allein aus der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Österreich und
der Bundesrepublik begründen. In der für den Kanzler erstellten „Wirtschafts-
information“ stand zu lesen: „Im bilateralen Warenverkehr ist die BRD für Öster-
reich deutlich wichtiger als umgekehrt. Im deutschen Export kommt Öster-
reich als Handelspartner erst an 8. Stelle. […] Für Österreich ist die BRD jedoch
bei weitem der wichtigste Handelspartner.“ Im Jahr 1986 hatten sich die öster-
reichischen Exporte in die Bundesrepublik auf gut 112 Milliarden österreichische
Schilling belaufen – Tendenz weiter steigend. Die Importe Österreichs hatten
fast den Wert von 180 Milliarden erreicht. In den ersten acht Monaten des Jahres
hatten die österreichischen Einfuhren aus der Bundesrepublik einen Anteil von
43,8 % am gesamten Import des Landes. Obwohl es Österreich in der vorange-
gangenen Dekade gelungen war, seinen Markanteil in der Bundesrepublik aus-
zubauen, während der westdeutsche Marktanteil in Österreich „ziemlich kon-
stant“ geblieben war, hatte sich das österreichische Defizit im bilateralen Handel
„stetig vergrößert“ und kratzte beständig an der 70-Milliarden-Schilling-Marke.
Dass ein derartiges Defizit auf Dauer verkraftbar war, lag an den Besonderheiten
der ökonomischen Verflechtung der beiden Nachbarstaaten. Während die Öster-
reicher nicht in überwältigend hohen Zahlen ihren Urlaub in der Bundesrepublik
verbrachten und dort „nur“ 20 Milliarden Schilling ausgaben, hatten die bundes-
deutschen Urlauber einen Anteil von mehr als 65 % an den gesamten Nächtigun-
gen von Ausländern in Österreich und gaben hier rund 60 Milliarden Schilling
aus, was 57 % der Gesamteinnahmen ausmachte. Dies war ein massiver Ausgleich
für das Handelsbilanzdefizit.205
Einer der alljährlich wiederkehrenden Stammgäste aus der Bundesrepublik
war übrigens Bundeskanzler Helmut Kohl, der Sommer für Sommer in St. Gilgen
am Wolfgangsee abstieg und seine Anwesenheit stets zu informellen Arbeits-
gesprächen mit österreichischen und anderen urlaubenden Politikern aus aller
Welt nutzte. Mit Vranitzky war er sowohl im Sommer 1986 als auch 1987 zusam-
mengetroffen. Leider wissen wir bisher nichts über die Inhalte seiner Gespräche
mit Kohl, dem üblicherweise ein „besonderes“ Naheverhältnis und spezifisches
Verständnis für Österreich nachgesagt wird.206
205 Wirtschaftsinformation für den Herrn Bundeskanzler anläßlich des offiziellen Besuches des
Herrn Bundeskanzlers vom 3.–5. November 1987 in der Bundesrepublik Deutschland, Stand
30. Oktober 1987, Kreisky-Archiv, Depositum Franz Vranitzky, Bestand AP, Karton „BK –
Ungarn, BK
– BRD (Bonn), BK
– Belgien, BK
– Berlin, BK
– Paris 3.–5. Feb. 88, BK
– Spanien“,
Mappe „BK – BRD“ (Hervorhebungen im Original).
206 Siehe dazu: Hanns Jürgen Küsters, Helmut Kohl, Österreich und die europäische Integra-
tion, in: Historisch-Politische Mitteilungen 20 (2013), S. 1–16. Siehe auch: idem, Europa- und
Integrationspolitische Strategien Helmut Kohls vor und nach der Wende 1989/90, in: Tho-
mas Fischer / Michael Gehler (Hg. unter Mitarbeit von Claudia Schmidt-Hahn), Tür an Tür.
Vergleichende Aspekte zu Schweiz, Liechtenstein, Österreich und Deutschland. Next Door.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99