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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Vranitzky räumte den Ereignissen 1989/90 in seinen Erinnerungen keinen pro-
minenten Platz ein. Innenpolitik dominiert seine Darstellung. Mittelosteuropa
hatte für ihn eine geographische Dimension ohne Politikgehalt, allerdings mit
einer spezifisch wirtschaftlich-kulturellen Dimension:
„Von Mitteleuropa als politischer Einheit oder politischem Projekt halte ich gar nichts
–
noch weniger von einem mythischen Konzept Mitteleuropa. Da spielt zu sehr die Sehn-
sucht nach einer gar nicht so guten alten Zeit mit. Mitteleuropa ist für mich ein geo-
graphischer Begriff, in dessen Rahmen sich bestimmte Kooperationen der Regionen
durchaus sinnvoll durchführen lassen, er stellt jedoch keine Alternative zum Projekt
der westeuropäischen Integration dar.“218
Vranitzky war international, allerdings keineswegs einseitig westorientiert:
„So verstanden, geht der Europagedanke weit über das hinaus, was heute Brüssel dar-
stellt. Ich füge hinzu, daß ein umfassend kulturell verstandenes Europa nicht aus-
schließlich westlich fixiert sein darf. Es wäre kurzsichtig, auf das kreative Potential Ost-
europas mutwillig oder fahrlässig zu verzichten. Hochmut steht uns im Westen nicht
an. Wir sollten versuchen, unsererseits auch vom Osten zu lernen.“219
Im Unterschied zu Mock fiel Vranitzkys Verhältnis zur EG nüchtern aus. Mock
war „glühender Verfechter“, während Vranitzky als „milder Befürworter“ galt.220
Die Große Koalition in Wien hatte erhebliche Abstimmungsprobleme und agierte
nicht einheitlich. Eifersucht und Kompetenzstreitigkeiten erzeugten immer wie-
der Uneinigkeit. Dennoch war es gelungen, den Entschluss zum Beitrittsantrag zu
fassen und diesen inmitten des Revolutionsjahres 1989 in Brüssel zu deponieren.
Nur wenige Monate, nachdem man das Beitrittsgesuch in Brüssel deponiert hatte,
fand sich dieses im Schatten der deutschen Frage wieder.
Mit dem 9. November 1989 hatten sich die Ausgangsbedingungen für den
österreichischen EG-Beitrittswunsch fundamental verändert. In Bonn gab es zu-
nächst zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt partielle und tem-
poräre Auffassungsunterschiede gegenüber Österreichs EG-Annäherungskurs,
allerdings nur in Nuancen. Die österreichische Sorge vor einer Vorzugsbehand-
lung der DDR als eigener EG-Beitrittskandidat sollte nicht unberechtigt sein.
Bonn betonte ausgehend von Jacques Delors’ Auffassung nun die Sonderfall-
These für die DDR: Österreichs EG-Ambitionen sollten deswegen nicht zurück-
gestuft werden, faktisch traten sie jedoch automatisch in den Hintergrund. Mock
bekannte sich – wie zu zeigen sein wird – als erster Außenminister in Europa
eindeutig und entschieden zur deutschen Einheit und vertrat parallel dazu wei-
terhin die österreichische Priorität für den EG-Beitritt. Bundesdeutsche Ermuti-
gungen zu mehr Aktivität gab es zwar seitens Bonns. Alle Beschwichtigungen und
218 Thurnher / Vranitzky, Vranitzky im Gespräch, S. 86.
219 Ebd., S. 49.
220 Österreich: Debatte über das strittige Thema Europa: Die Angst vor dem Echo aus Brüssel,
in: Süddeutsche Zeitung, 30. Juni 1989.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99