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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Besänftigungen halfen jedoch nur wenig. Österreichs Beitrittsgesuch trat für Brüs-
sel 1990 völlig zurück. Vor dem Hintergrund der sich vollziehenden deutschen
Einheit und angesichts der gesamtdeutschen Wahlen Ende 1990 sank das Bonner
Interesse am österreichischen EG-Beitritt. Nach erfolgreich geschlagener Wahl
in Deutschland bekräftige Kohl die Unterstützung für Österreichs EG-Beitritt,
relativierte aber seine frühere überaus optimistische Prognose für den Zeitpunkt.
Es galt, sich auf ein längeres Warten einzustellen: Die deutsche Einheit musste in
der EG erst verarbeitet, der Binnenmarkt geschaffen und ein neuer Unionsver-
trag ausgearbeitet werden. In der Folge riet Kohl aber von einem Umweg über den
Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab und empfahl den direkten Weg zur EG.
Mit seiner Vorhersage des Beitritts im Jahre 1995 lag er goldrichtig und Einwände
wegen Österreichs Neutralität von Teilen der Kommission, EG-Mitgliedern und
aus Kreisen der Europäischen Volkspartei (EVP) blieben folgenlos.221
Die Frage der deutschen Einheit war ein parteienübergreifendes Anliegen auch
österreichischer Politik. So sehr sich Mock hier für Kohls Position aufgeschlos-
sen zeigte, so war dies auch in früheren Zeiten schon auf sozialdemokratischer
Ebene so auch gegeben. Als Bundeskanzler Bruno Kreisky und sein westdeutscher
Counterpart Helmut Schmidt im Mai 1980 zusammentrafen, sprach der deutsche
Kanzler auch die Frage der „Wiedervereinigung“ an und meinte, dass diese für
Frankreich „wie auch für andere Nachbarn“ trotz aller sonstigen Übereinstim-
mung bei der Bewertung der internationalen Lage „nicht ganz unproblematisch“
sei. Kreisky warf ein: „für Österreich nicht“.222
Kreisky tätigte diese Aussage aus Überzeugung, auch wenn er keinesfalls da-
mit rechnete, dass diese Frage bald zurück auf die Tagesordnung der Weltpolitik
kommen würde. Seine Politik gegenüber den sozialistischen Staaten war vor dem
Hintergrund der verschärften internationalen Lage eben entspannungsorientiert.
Daher galt es, die Beziehungen zur DDR insbesondere in wirtschaftlicher Hin-
sicht zu intensivieren und den Dialog fortzusetzen. Genau diese Politik führte
aber letztendlich dazu, dass Österreichs Haltung zur Frage der deutschen Einheit
eher ein Lippenbekenntnis war, das seiner Überprüfung um den Jahreswechsel
1989/90 schließlich nicht in dieser Deutlichkeit standhielt. Nach der Überwindung
eines gewissen Missfallens gegenüber der österreichischen DDR-Politik Anfang
der 1980er-Jahre waren die österreichisch-bundesdeutschen Beziehungen abge-
sehen von kleineren Nachbarschaftsproblemen wie der Transitfrage, grenznahen
Atomkraftwerken, etc. Mitte der 1980er-Jahre weitgehend problemfrei.223
Die in der Bundesrepublik medial mittlerweile als „Skandalrepublik“ in Verruf
geratene Alpenrepublik fand bei der Bonner politischen Führung sogar Verständ-
nis. Dies wurde insbesondere im Gespräch Mocks mit Kohl in Bonn im Okto-
ber 1987 deutlich. Mit seinem Amtskollegen Genscher tauschte sich der öster-
221 Gehler, Von der Befürwortung zur Verzögerung und Verhinderung, S. 343–347.
222 Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit Bundeskanzler Kreisky, 6. Mai 1980 (= Dokument
136), in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1980, S. 706–717.
223 Siehe dazu Dok. 2.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99