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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
der sowjetischen Wirtschaftsprobleme vor übertriebenen Hoffnungen.230 Aus
Sicht der österreichischen Botschaft in Ost-Berlin war die Gorbatschow-Visite –
trotz anderslautender vorhergehender Befürchtungen
– auch für die DDR „glimpf-
lich“ verlaufen.231
Die österreichische Botschaft in Bonn hatte die seit dem Honecker-Besuch
1987 intensivierte öffentliche Diskussion über die Deutschlandfrage (Wieder-
vereinigungsanspruch versus staatliche Anerkennung der DDR) aufmerksam
verfolgt. Die politische Partizipation in dieser wirkte wie ein aus verfassungs-
rechtlichen Zwängen resultierender Balanceakt. Trotz aller Rhetorik war jedem
Beteiligten klar, dass eine „Wiedervereinigung“ nicht gegen den Willen der Nach-
barn und nur friedlich durchzusetzen sein würde. Dennoch schien es eine theo-
retische Diskussion zu sein, denn nach Ansicht von Botschafter Friedrich Bauer
sah „die überwiegende Mehrheit der bundesdeutschen Politiker aller Parteien […]
keine konkreten Aussichten auf [eine] Wiedervereinigung“.232 Auch nach der
Grenzöffnung im September 1989 sprach Bauer nur von einem „‚Wiedervereini-
gungs‘-Getöse“, das auf die bundesdeutsche Vorwahlkampfatmosphäre und die
Auswirkungen von Gorbatschows Reformpolitik auf die in die Krise geratene
DDR zurückzuführen sei. Bauer erwartete eine Fortführung der parteiübergrei-
fenden pragmatischen Deutschlandpolitik und hatte den Eindruck, dass niemand
„mit einer zwangsläufigen, unaufhaltsamen Eigenentwicklung in Richtung Wie-
dervereinigung“ rechne. Abschließend vermeldete Bauer nach Wien, dass Bonn
–
in seiner Hoffnung auf Reformen, nicht aber Destabilisierung der Lage in der
DDR – „für jede Einwirkung auf die DDR in Richtung Stabilisierung und Demo-
kratisierung dankbar“ sei, denn „auch der DDR (und gerade auch den reform-
freundlicheren Kräften)“ wäre „mit einer Isolierung nicht geholfen“. Hinsichtlich
Äußerungen zur Frage einer „Wiedervereinigung“ mahnte er Zurückhaltung an,
da Österreich diese im Fall der Fälle weder „herbeiführen“ noch „verhindern“
würde.233 Wie sehr seine Einschätzung auch vor dem Hintergrund der „fried-
lichen Revolution“ Gültigkeit hatte, zeigten die Informationen, die Österreichs
Botschaft in Bern Anfang November nach einem Besuch Genschers erhalten
hatte. Dort soll der Außenminister die Ansicht vertreten haben, dass die Sowjet-
union die Entwicklung in der DDR „laufen lassen“ würde, solange nicht der „Ruf
nach Einheit“ ertöne, wovon er auch ausging.234
Für Österreichs Botschaft in Bonn schien noch Stunden vor dem „Mauer-
fall“ am 9. November 1989 die sowjetische „Akzeptierung eines deutschen Ein-
heitsstaates auf absehbare Zeit undenkbar“.235 Den Abend verbrachte Botschafter
Bauer laut eigener Darstellung bis zur Gewissheit über die Maueröffnung im
230 Siehe Dok. 43.
231 Siehe Dok. 44.
232 Siehe Dok. 20.
233 Siehe Dok. 59.
234 Siehe Dok. 64.
235 Siehe Dok. 66.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99