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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
guten, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der DDR […] auch in
Zukunft fortsetzen“ wolle.260 Im Gegensatz zu Mock, der schon am 10. Novem-
ber gegenüber den Medien die Meinung vertrat, dass er eine Chance sehe, „daß
die leid- und schmerzvolle Teilung Europas und die darin verborgene Gefahr für
den Frieden wegfällt“,261 wollte Vranitzky zur Frage einer möglichen „Wieder-
vereinigung“ Mitte November keine Stellungnahme abgeben. Eine solche „käme
einer Einmischung gleich. Die DDR solle ihre Probleme zunächst allein lösen“,
zitierte ihn das SED-Organ.262 Er setzte auf eine Politik der Äquidistanz und des
Abwartens. Im Gespräch mit Michael Gehler meinte er dazu: „Da sich niemand
wirklich ausgekannt hat, ob sich etwas Neues entwickeln werde, hat niemand am
Status quo gerüttelt.“263
Bezeichnend für diese Grundeinstellung war sein Besuch in der DDR am
24. November 1989 und die Gegeneinladung an Modrow, dessen Besuch in Wien
bereits am 26. Jänner 1990 zustande kam. Zu diesen bezog Vranitzky im Gespräch
nicht genauer Stellung. Er betonte jedoch, dass er sich mit Kohl abgestimmt habe,
um kein Störfaktor in dessen Deutschlandpolitik zu sein.264 Vranitzky meint,
keine Politik für den Erhalt der DDR betrieben zu haben – die Wirkung nach
außen und die Wahrnehmung in der DDR waren aber wohl eine andere.265
Definitive Klarheit darüber, mit wem der Besuch abgestimmt war, gibt es bis
heute nicht und wird es aufgrund der dürftigen Aktenlage auch in Zukunft ver-
260 Gute Beziehungen werden fortgesetzt, in: Neues Deutschland, 11. November 1989, S. 15.
261 Die DDR öffnet den Eisernen Vorhang – Reaktionen 3 Wien, Austria Presse Agentur (APA),
Meldung Nr. APA0009 5 AI, 10.11.1989.
262 Keine Einmischung in DDR-Probleme, in: Neues Deutschland, 13. November 1989, S. 1.
263 Siehe das Zeitzeugengespräch mit Franz Vranitzky, „Es gibt in der Politik sowieso keine
Patentlösungen, wie auch 1989/90 keine endgültigen Lösungen möglich waren“, in: Michael
Gehler / Andrea Brait (Hg.), Am Ort des Geschehens in Zeiten des Umbruchs. Lebens-
geschichtliche Erinnerungen aus Politik und Ballhausplatzdiplomatie vor und nach 1989,
Hildesheim / Zürich / New York 2017, S. 333–381, hier S. 342–343, und besonders S. 347.
264 In einem Interview erklärte Vranitzky, dass es diese Abstimmung vor seinem Besuch in
Ost-Berlin gegeben habe, siehe „Kohl sagte: ‚Ich bitte dich, mach das‘“, Interview von Oliver
Pink mit Franz Vranitzky, in: Die Presse am Sonntag, 1./2.11.2014, S. 4–5. Vranitzky erwähnt
dies auch in seinen Memoiren, allerdings vermengt er dort seine heutigen Erläuterungen
zum Zustandekommen seines DDR-Besuchs am 24. November 1989 mit dem Gegenbesuch
Modrows in Österreich am 26. Jänner 1990, weshalb die Quelle wenig aussagekräftig bleibt.
Siehe: Franz Vranitzky, Politische Erinnerungen, Wien 2004, S. 208–209. Botschafter Bauer
betont, dass Vranitzky auch von François Mitterrand ermutigt worden sei, diesen Besuch zu
machen. siehe Friedrich Bauer, „Der Sinn der Kulturpolitik, als noch der Eiserne Vorhang da
war, war in diesen kleine Löcher zu bohren“, in: Gehler / Brait (Hg.), Am Ort des Geschehens,
S. 159–183, hier S. 161. Bauer merkt darüber hinaus an, dass die Bundesrepublik nicht auf die-
sen Besuch reagiert habe; es gab keine negativen Reaktionen aus dem Bundeskanzleramt oder
dem Auswärtigen Amt. Mit der später erfolgten Einladung von de Maizière wollte Vranitzky,
Bauer zufolge, wohl die österreichische Position auch nach der Einigung festigen.
265 Michael Gehler / Andrea Brait, Erweiterte Diplomatiegeschichte durch Oral History im Zei-
chen von Internationaler Geschichte. Umbruchszeiten in Mittel- und Osteuropa vor und
nach 1989 in Erinnerungen von Akteuren und Beobachtern, in: idem (Hg.), Am Ort des Ge-
schehens, S. 9–77, hier S. 42–43.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99