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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
mutlich nicht geben. 25 Jahre nach dem „Mauerfall“ erklärte Vranitzky (der sich
zuvor nur ungern an den Besuch erinnern wollte), dass er sich im Vorfeld des Be-
suchs, da er keinesfalls die Deutschlandpolitik seines Amtskollegen Helmut Kohl
stören wollte, telefonisch mit ihm beraten und nach seiner Meinung dazu gefragt
hatte. Darauf soll der bundesdeutsche Kanzler gesagt haben: „Ich bitte dich, mach
das auf alle Fälle. Der Modrow ist einer, mit dem man über die Zukunft reden
kann.“266 Diese Version wiederholte Vranitzky auch im Rahmen einer Fernseh-
diskussion, in der er betonte, dass Modrow den Besuch dringend wollte. Zudem
hielt er fest, dass man zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, wie es mit der
DDR weitergehen würde. Noch deutlicher als im oben zitierten Interview kam zum
Ausdruck, wie sehr seine „Ostpolitik“ nüchtern-pragmatisch von wirtschaftlichen
Motiven geleitet war. Von diesem Standpunkt ausgehend war sein Besuch bei
Modrow nur logisch.267 Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschik (einer der
ersten Chronisten der deutschen Einheit)268 äußerte sich dazu folgendermaßen:
„Also an Ärger Kohls kann ich mich nicht erinnern. Dieser Besuch war aber wenig hilf-
reich für unsere Verhandlungen. Wir wussten, dass die DDR praktisch bankrott und
alleine nicht überlebensfähig war. Das war ja auch unser Hauptargument gegenüber der
sowjetischen Führung. Die DDR brauchte dringend finanzielle Hilfe. Doch dazu hätten
die Mittel in Österreich sicher nicht ausgereicht.“269
Anlässlich des Besuchs Vranitzkys in der DDR hielten die Analysten der Stasi-
Nachfolgebehörde, des Amts für Nationale Sicherheit, fest: „Aus politischen,
histo
rischen und ökonomischen Gründen wende sich Österreich gegen ein ‚Weg-
reformieren‘ der DDR und die Entstehung eines ‚Großdeutschland‘, dessen poten-
tielle Dominanz für das Kräftegleichgewicht in Europa unkalkulierbare Folgen
hätte.“ Als einzige Ausnahme von dieser Tendenz sah man den Chef der öster-
reichischen Außenpolitik:
„Die Vorstellungen von Außenminister Mock, der sich insgesamt stark an die Auf-
fassungen von Bundeskanzler Kohl anlehne, würden von anderen ÖVP-Politikern so-
wie Führungskreisen des ÖVP-Wirtschaftsbundes nicht geteilt. Von diesen Kräften
werde befürchtet, daß eine Unterstützung der BRD-Politik in Richtung Wiedervereini-
gung letztendlich die Position Österreichs in Europa schwächen und negative Folgen
für die Wirtschaft Österreichs haben werde
– aufgrund der Verlagerung ökonomischer
Interessen der BRD von Österreich auf die DDR.“270
266 Siehe nochmals das Interview mit Vranitzky, in: Die Presse am Sonntag, 1./2. November 2014,
S. 4–5, für das wörtliche Zitat 4.
267 Im Zentrum, ORF 2, 9. November 2014, 22–23 Uhr.
268 Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991.
269 Interview von Otmar Lahodynsky mit Horst Teltschik, in: profil, 20. Oktober 2014, S. 65.
270 Amt für Nationale Sicherheit, Nr. 508/89, Information über aktuelle österreichische Ein-
schätzungen zur Lage der DDR und zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen Öster-
reich-DDR, Berlin, 24. November 1989, BStU, MfS, ZAIG Nr. 5759, Bl. 1–4, 5–8; sowie auch
BStU, MfS, ZAIG Nr. 8420, Bl. 1–4. Für eine ausführlichere Befassung mit diesem Schlüssel-
dokument siehe Graf, Österreich und die DDR, S. 590–592.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99