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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
zerstören. Ein zu schneller Ablauf der Ereignisse würde jedoch ein solches Risiko in sich
bergen. Alles müsse unter europäischen Aspekten beurteilt werden.“314
Etwas anders gestaltete sich das im Zuge des Modrow-Besuchs stattgehabte Ge-
spräch der Außenminister Oskar Fischer und Alois Mock. Fischer hatte einige Tage
zuvor im Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse
erfahren, dass Gorbatschow grundsätzlich der deutschen Einheit zustimme.315
Daher unterstrich er gegenüber Mock, „dass es zur Vereinigung kommen werde;
sie müsse in die Überwindung der europäischen Spaltung eingebettet sein.“316
Damit war Mock vermutlich der erste westliche Außenminister, der in dieser
Deutlichkeit über diesen Befund der Akzeptanz der deutschen Einigung seitens
des KPdSU-Chefs informiert wurde, die fortan vor allem noch an der Frage der
NATO-Mitgliedschaft des geeinten Deutschlands und in weiterer Folge an dessen
Gegenleistungen an die Sowjetunion hing. Noch hoffte man in Moskau den Pro-
zess der Vereinigung zumindest hinauszögern zu können.317
314 Siehe Dok. 112.
315 Auch wenn Schewardnadse sinngemäß betonte, dass eigentlich niemand in Moskau oder
im gesamten Europa ein Ende der deutschen Zweistaatlichkeit wollte, hielt er unmissver-
ständlich fest, „daß die Sowjetunion den Deutschen keinesfalls das Recht auf Selbstbestim-
mung abspreche. Dieses Recht hätten die Deutschen in der DDR ebenso wie die Deutschen
in der BRD. Ihr Wunsch nach engerer Zusammenarbeit und
– wenn es die Deutschen so ent-
scheiden – staatlicher Einheit werde respektiert, wobei es sich verstehe, daß Einheit entspre-
chende Bedingungen voraussetzt. Für die Sowjetunion sei z. B. ein Deutschland in der NATO
nicht hinnehmbar. Gegenwärtig sei auch nicht zu erkennen, wie bei einem Verbleib der BRD
in der NATO und der DDR im Warschauer Vertrag eine staatliche Einheit der Deutschen
praktisch möglich sei. Und Neutralisierungsverfahren würden vielerorts abgelehnt, sie seien
nicht real.“ Zitiert nach: Vier-Augen-Gespräch Oskar Fischers mit E. A. Schewardnadse an-
läßlich des Arbeitsbesuches des Ministers für Auswärtige Angelegenheit[en] der DDR in der
UdSSR. Vermerk. [Auszug], 20. Januar 1990 (= Dokument 33), in: Die Außenpolitik der DDR,
S. 441–443, für das wörtliche Zitat S. 441. Mit dieser Einschätzung war Schewardnadse den
wenig später offenbarten Plänen Modrows um Welten voraus. Aus den bisher veröffentlichten
sowjetischen Dokumenten wissen wir auch, dass Gorbatschow – erstmals dokumentarisch
erwähnt
– just während Modrows Wien-Besuch an 26. Jänner im Kreis der sowjetischen Füh-
rung von einer „Wiedervereinigung“ sprach, deren Realisierung es „in die Länge zu ziehen“
galt. Siehe: Diskussion der deutschen Frage im Beraterstab von Generalsekretär Gorbačev
am 26. Januar 1990. Erörterung der deutschen Frage im kleinen Kreis im Arbeitszimmer des
Generalssekretärs des ZK der KPdSU, 26. Januar 1990 (= Dokument Nr. 66), in: Michail Gor-
batschow und die deutsche Frage, S. 286–291.
316 Siehe Dok. 113.
317 Siehe dazu rezent Andreas Hilger, Die getriebene Großmacht
– Moskau und die deutsche Ein-
heit 1989/1990, in: Michael Gehler / Maximilian Graf (Hg.), Europa und die deutsche Einheit.
Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017, S. 117–139; Wolfgang Mueller,
The USSR and the Reunification of Germany, 1989–90, in: idem / Michael Gehler / Arnold
Suppan (Hg.), The Revolutions of 1989. A Handbook Wien 2015, S. 321–353; idem, Die Lage
gleitet uns aus den Händen: Motive und Faktoren in Gorbatschows Entscheidungsprozess
zur Wiedervereinigung Deutschlands, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 39
(2016), S. 3–28; Stefan Karner / Mark Kramer / Olga Pavlenko / Peter Ruggenthaler / Manfred
Wilke, Der Kreml und der deutsche Vereinigungsprozess 1989/90, in: Stefan Karner et al. (Hg.),
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99