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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
war das dritte Zusammentreffen auf Ebene der Regierungschefs zwischen Öster-
reich und der DDR seit dem „Mauerfall“. Als ihn Bundeskanzler Vranitzky am
Flughafen fragte, ob er das erste Mal in Österreich sei, antwortete er in seiner
typisch lakonischen Art: „Ich bin überall zum ersten Mal.“401
Ursprünglich war für den Folgetag ein Treffen zwischen de Maizière und Kohl
an dessen Urlaubsort St. Gilgen vorgesehen, das dann aber nicht stattfand. Das
Unterbleiben der deutsch-deutschen Begegnung in Österreich war der öster-
reichischen Regierung schon angesichts der möglichen Optik im Ausland nur
allzu recht.402 Ein Schwerpunkt des Besuchs
– zu dem bisher kein Gesprächspro-
tokoll aufgefunden werden konnte – lag darauf, zu betonen, dass die traditionell
guten Beziehungen zu diesem „Raum“ im vereinigten Deutschland aufrechterhal-
ten und weiter ausgebaut werden sollten.403 In diesem Sinne wurden auch noch im
Sommer 1990 kulturelle Vereinbarungen mit der DDR geschlossen.404
De Maizière blieb Österreich auch danach eng verbunden. So dachte er nicht
nur über einen Urlaub in der Alpenrepublik nach dem 3. Oktober nach, sondern
informierte die österreichische Diplomatie auch persönlich über die letzten Auf-
gaben der DDR-Regierung bis zu diesem Datum. Das Tempo des Übergangs be-
reitete ihm in mancherlei Hinsicht Sorgen.405 Auch die österreichische Botschaft
in Ost-Berlin hatte ob der nahenden Einheit den Eindruck: „Die Stimmungslage
jedoch erscheint gespalten.“ Zu groß war das Bewusstsein, dass „nicht in weni-
gen Monaten alle Schwierigkeiten“ überwunden werden können. So machte sich
ein „gewisses Maß an Verunsicherung“ breit und Botschafter Binder vermutete
bereits, dass sich die „Deutschen des Ostens“ noch einige Jahre „als Deutsche
zweiter Klasse fühlen“ würden. „Trotz der mitunter zwiespältigen Stimmung im
Lande“ – so urteilte Binder – „dürfte dennoch bei der Mehrheit der Optimismus
überwiegen, daß diese Schwierigkeiten in wenigen Jahren überwunden sein wer-
den und sich Außenminister Genschers Vorhersage vor der Generalversammlung
der Vereinten Nationen, daß von Deutschland nunmehr Frieden ausgehen wird,
bewahrheitet.“406
An diesen Punkt knüpfte das von der österreichischen Generalkonsulin im
vormaligen West-Berlin, Gabriele Matzner-Holzner, verfasste „positive, auf per-
401 Vranitzky, Politische Erinnerungen, S. 209.
402 De Maizière reiste allerdings bereits am 31. Juli erneut nach Österreich und traf mit Kohl
in St. Gilgen am Wolfgangsee zusammen, wo sich die beiden deutschen Regierungschefs
über „die Verhandlungen zum Einigungsvertrag und zum Wahlvertrag“ austauschten. Siehe
Europa-Archiv 16/1990, Z. 170.
403 Siehe Dok. 165, Anm.4.
404 Andrea Brait, „Vor Torschluss“: Österreichs Kulturbeziehungen zur DDR 1989/90, in: Mi-
chael Gehler / Maximilian Graf (Hg.), Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Ent-
scheidungen und Folgen, Göttingen 2017, S. 349–374; idem, Kultur als Grenzöffner? Motive
und Schwerpunkte der österreichischen Kulturaußenpolitik im Verhältnis zu seinen öst-
lichen Nachbarn in den Jahren 1989–91, in: Zeitgeschichte 41 (2014) 3, S. 166–183.
405 Siehe Dok. 168.
406 Siehe Dok. 174.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99