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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
die beiden überein, dass die bundesdeutsche Führung die nach der Erlangung
der Einheit anstehenden Aufgaben, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht,
unterschätze. Eine gewisse (in dieser Hinsicht aber jedenfalls berechtigte)
Skepsis
war also beiden geblieben.410
Ein entscheidender „Hintergrund“ bei der Veränderung der österreichischen
Haltung lag „im Wunsch nach gesamtdeutscher Unterstützung für den ange-
strebten EG-Beitritt“ – einen Beitritt, den das Gebiet der DDR mit Vollzug der
deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 bereits erreicht hatte. Vermutlich auch
deshalb „blieb das französische Misstrauen bezüglich einer weiteren Stärkung der
‚deutschen Stimme‘ in der EG“,411 das bereits 1989 deutlich zu verspüren war, noch
eine Weile bestehen. 1988 hatte Jacques Chirac als französischer Premierminis-
ter gegenüber Vranitzky noch betont, dass auch kleinere bilaterale Kalamitäten,
„nichts an dem [französischen] Willen, die Integrationspolitik Österreichs zu
unterstützen, ändern“ würden.412 Kurz nach dem „Mauerfall“ tätigte er als Bür-
germeister von Paris eine öffentliche Äußerung, in der er von Österreich als einem
der drei deutschen Staaten sprach.413 Die Gespräche Vranitzkys mit Mitterrand
1990 waren ausschließlich von der Integrationsfrage bestimmt.414 Bundeskanzler
Franz Vranitzky hat besonders genaue Erinnerung an die Reaktionen Italiens und
Frankreichs:
„Italiens Ministerpräsident Bettino Craxi ließ mich über eine Vertrauensperson, die er
nach Wien schickte, wissen, so schnell wie möglich der EG beizutreten, um die deutsche
Hegemonie zu relativieren. Was die deutsche Frage
– nennen wir sie einmal so
– betrifft,
war einzig und allein Mitterrand jemand, der lang gebraucht hat, um mir zu sagen: ‚Ich
unterstütze dein Vorhaben.‘ Gemeint war unser Vorhaben, der EG beizutreten. Ich bin
in der Vorbereitungszeit, also zwischen 1989 und 1994, jedes Jahr in fast allen Haupt-
städten der EG-Staaten gewesen, um immer wieder zu sagen: ‚Wir sind gut vorbereitet,
wir machen dieses, wir machen jenes und so weiter.‘ Das ging von González bis That-
cher, die alle gesagt haben: ‚Seid willkommen.‘ Nur nicht Mitterrand. Er hat lange Zeit
gesagt: ‚Ja, es ist gut zu hören, dass Vorbereitungen getroffen sind, aber letztendlich
muss das österreichische Volk wissen, dass es alle Bedingungen zu erfüllen hat.‘ Ich
schätze, es wird erst 1993 gewesen sein, als er bei einem Besuch im Elysée mir gesagt hat:
‚D’accord
– ich unterstütze euch.‘ Zu dem Zeitpunkt ging es schon in die Endrunde. Er
hat – ich erinnere mich noch gut – mich dann die Stiegen herunter begleitet im Elysée
und gesagt: ‚Na ja, heute habe ich also zugestimmt, dass der dritte deutsche Staat bei-
410 Siehe Dok. 148.
411 Gehler, Eine Außenpolitik der Anpassung an veränderte Verhältnisse, S. 525.
412 Besuch des Herr Bundeskanzlers in Paris. Gespräch mit Premierminister CHIRAC am
4.2.1988 inhaltliche Zusammenfassung, verfasst von Botschafter Wolfgang Schallenberg,
Paris, im Februar 1988, Kreisky-Archiv, Depositum Franz Vranitzky, Bestand AP, Karton
„BK – Ungarn, BK – BRD (Bonn), BK – Belgien, BK – Berlin, BK – Paris 3.–5. Feb. 88, BK –
Spanien“, Mappe „BK – Paris (Frankreich)“.
413 Siehe Dok. 73, Anm 6.
414 Siehe Dok. 147 und 175.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99