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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Bei aller Sympathie und Zuwendung stand fest: Die Dänemark und Großbri-
tannien gewährten Sonderregelungen sollten für die neuen Mitgliedstaaten nicht
gelten. Die Luxemburger waren wie die Niederlande „grundsätzlich positiv“ zu
Österreichs Anliegen eingestellt, ebenso Portugal, das ebenfalls den Beitritt klei-
nerer Staaten wünschte. Es ging davon aus, dass Ausnahmeregelungen „auf das
Nötige beschränkt“ werden sollten und das institutionelle Gewicht der kleine-
ren Mitgliedsstaaten aufrechterhalten bleiben würde. Lissabon sprach sich gegen
die Junktimierung zwischen Erweiterung und der Reform der Institutionen aus.
Luxem
burg war der Meinung, dass numerische Anpassungen in den Institu-
tionen ausreichen müssten. Alles Weitere könnte nach Maastricht bei einer Re-
visionskonferenz im Jahre 1996 behandelt werden. Zweifel bestanden an einem
künftigen Beitritt Schwedens und Norwegens, wobei sich in diesem Falle institu-
tionelle Fragen gar nicht stellen würden. Der EWR sollte nicht automatisch weiter
gelten. Großbritannien begrüßte Österreichs Anliegen vor allem aufgrund seiner
Kontakte in Mittel- und Osteuropa. Das britische Ziel bestand grundsätzlich in
der „Schaffung eines dezentralen, pragmatischen Europas“. Griechenland war
ebenfalls positiv gestimmt. Die Stärkung der kleineren Mitgliedsstaaten wurde
von Athen befürwortet, gleichwohl es gewisse Befürchtungen hinsichtlich einer
Schwerpunktverlagerung in der EU angesichts der „Norderweiterung“ hegte. Ir-
land war zu Österreich aus politischen Gründen „uneingeschränkt positiv“ einge-
stellt. Es lehnte grundlegende institutionelle Reformen ab, während Italien insti-
tutionelle Anpassungen zur Verhinderung einer Verwässerung für erforderlich
hielt. Rom war – umso mehr nach der erfolgten österreichischen Abgabe der
Streitbeilegung in der Südtirolfrage vor den Vereinten Nationen 1992
– Österreich
gegenüber genauso positiv eingestellt mehr noch als gegenüber Schweden, Finn-
land und Norwegen.418
Am 1. Jänner 1995 wurde Österreich nach einer Volksabstimmung vom 12. Juni
1994, bei der sich rund zwei Drittel der Wähler für einen Beitritt aussprachen, und
nicht zuletzt dank deutscher Unterstützung – auf die man von Anfang an gebaut
hatte – Mitglied der Europäischen Union (EU). Auf halbem Weg dorthin ver-
ließ 1993 Botschafter Herbert Grubmayer seinen Posten in Bonn und verfasste
einen Abschlussbericht, in dem er die ersten Jahre des geeinten Deutschlands in
den Blick nahm. Während die Probleme des inneren Zusammen
wachsens mitt-
lerweile offenkundig waren, befand sich die Rolle des größeren Deutschlands in
Europa und der Welt noch in Entwicklung. Das Verhältnis Österreichs zu Deutsch-
land charakterisierte er als „ausgezeichnet“. Dennoch schien ihm die Ambivalenz
von „Abgrenzung“ und „Anlehnung“ auch mit Blick auf den österreichischen
Beitrittsprozess weiter stark ausgeprägt. Grubmayer sprach bewußt von einem
418 Ebd.; Michael Gehler, Vollendung der Bilateralisierung als diplomatisch-juristisches Kunst-
stück: Die Streitbeilegungserklärung zwischen Italien und Österreich 1992, in: Siglinde Cle-
menti / Jens Woelk (Hg.), 1992: Ende eines Streits. Zehn Jahre Streitbeilegung im Südtirol-
konflikt zwischen Italien und Österreich, Baden-Baden 2003, S. 17–82.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99