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Anfang 1985: Grundbericht Österreich und die DDR Dok. 1
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Der verbale Schritt vom „deutschsprachigen Österreich“ zum „dritten deut-
schen Staat“ fällt gelegentlich hohen DDR-Funktionären übrigens nicht allzu
schwer. Wie im oben erwähnten Zitat E.
Honeckers will man dies zwar [sic!] meist
so verstanden wissen, daß es neben der Bundesrepublik ein anderes deutschspra-
chiges Land gebe, für das sich der DDR-Bürger interessieren könne, ja solle.
Im Aufruf zum „40. Jahrestag der Befreiung“ wurde Österreich als eines der
ersten Opfer des Hitlerfaschismus genannt.
Was die offizielle Haltung der DDR zum Staatsvertrag von 1955 und die im-
merwährende Neutralität betrifft, so sieht sie diese als wesentliche und völker-
rechtswirksame Faktoren zur Stabilisierung der Situation in Mitteleuropa an,
denen sie „hohe Wertschätzung bezeugt“ („Außenpolitik der DDR“, Staatsverlag
der DDR, 1982, Seite 258).39
In diesem Zusammenhang wäre auch zu erwähnen, daß die DDR-Staats- und
Parteiführung und die DDR-Massenmedien keine Gelegenheit außer acht lassen,
um österreichische Stellungnahmen und Stimmen zur Abrüstungs- und Frie-
denspolitik zu zitieren und der DDR-Bevölkerung zu vermitteln, sofern sie mit
der offiziellen DDR-Auffassung nicht im Widerspruch stehen. Das neutrale Öster-
reich und seine Repräsentanten sind laufend Kronzeugen für eine auf friedliche
Koexistenz und Entspannung gerichtete Politik.
So positiv das Interesse der DDR an guten Beziehungen zu Österreich ist, so
kann nicht übersehen werden, daß sie sich aus den verschiedensten Gründen mit
Nachdruck auch um die Intensivierung ihrer Beziehungen zu anderen westlichen
Staaten, einschließlich großer und kleiner NATO-Mitglieder bemüht. Dabei hat
sie gerade im Jahr 1984 politisch nicht unwesentliche Erfolge erzielt, konnte sie
doch drei NATO-Ministerpräsidenten, davon zwei zu offiziellen Besuchen in Ber-
lin begrüßen.40
Die Beziehungen zwischen Österreich und der DDR im multilateralen Be-
reich sind, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ausgangslage im ge-
sellschaftspolitischen Bereich, ebenfalls gut. So hat sich die DDR stets für die
Stärkung der UN-Präsenz in Wien eingesetzt. Auch das Interesse an Konsulta-
tionen in den Vereinten Nationen und in der ECE41 wird laufend manifestiert.
Zwischen den Vertretern bei den KSZE / KVAE-Verhandlungen42 bestehen gute
Arbeitsverbindungen.
39 Stefan Doernberg, Außenpolitik der DDR. Sozialistische deutsche Friedenspolitik, Berlin
(Ost) 1982, S. 258.
40 Der kanadische Ministerpräsident Pierre Trudeau besuchte vom 30. Jänner bis 1. Februar
1984, der griechische Ministerpräsident Andreas Papandreou vom 4. bis 6. Juli 1984 und der
italienische Ministerpräsident Bettino Craxi vom 9. bis 10. Juli die DDR.
41 ECE = Economic Commission for Europe, eine UN-Einrichtung mit Sitz in Genf.
42 Die Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in
Europa (KVAE) fand von 17. Jänner 1984 bis 19. September 1986 in Stockholm statt. Dort
einigte man sich unter anderem auf Vor-Ort-Inspektionen. Der Abschluss des Treffens ebnete
den Weg zu weiteren Abrüstungsschritten.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99