Page - 135 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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19.3.1987: Analyse Gesandter Sucharipa Dok. 5
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danach vor hohen Parteifunktionären10 hielt, deutliche Distanz zu Gorbatschows
Reformkonzept. Westlichen Politikern und Medien gegenüber wurde seitens der
DDR aber versichert, dass die Perestroika „mit Wertschätzung“ betrachtet würde,
und jede Skepsis ihr gegenüber in Abrede gestellt. Allerdings wurde auch auf
Unterschiede in der Entwicklungsmethodik hingewiesen und festgehalten, dass
es kein sozialistisches Land gebe, das die Kopie eines anderen sei. Zur Bestäti-
gung der Richtigkeit des schon vor längerer Zeit (namentlich genannt wurde
der VIII. SED-Kongress 1971!)11 in der DDR eingeschlagenen Wirtschaftskurses
wurde eine Reihe von Leitern großer sowjetischer Unternehmen zitiert, die nach
dem Besuch in der DDR die zentralistische Kombinatsverfassung sehr gelobt und
als vorbildlich bezeichnet hätten. In Ost-Berlin dürfte man überzeugt sein, dass
Moskau an ökonomischen Experimenten im industriell am weitesten entwickel-
ten RGW-Partnerland kaum interessiert sein dürfte, da die Sowjetunion erheb-
liche Unterstützung von Seiten der DDR bei der Realisierung und Modernisierung
ihrer eigenen Wirtschaft erwartet.
lichen Staaten weitergehen wird und der Ausbau der Beziehungen zur BRD eine Fortsetzung
findet. Eine nennenswerte Selbstkritik wird in der DDR in absehbarer Zeit nicht zum Vor-
schein kommen.“ Geschäftsträger a.i. Gesandter Lorenz Graf an BMAA, Berlin (Ost), 11. Fe-
bruar 1987, Zl. 24-RES 1987, ÖStA, AdR, BMAA II-Pol 1987, GZ. 225.18.03/2-II.3/87.
10 „Fünftens erfordert ideologische Arbeit ständige Wachsamkeit, um das Eindringen antimar-
xistischer, antisozialistischer bürgerlicher Ideologien zu verhindern. Nach wie vor gilt der Le-
ninsche Grundsatz: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht.
Die Kommunisten sind verpflichtet, Angriffen auf die Politik der Partei, auf den sozialisti-
schen Staat der Arbeiter und Bauern entschieden entgegenzutreten, gegen Entstellungen und
Verfälschungen der marxistisch-leninistischen Theorie und der Geschichte der revolutionä-
ren Arbeiterbewegung Stellung zu nehmen, ganz gleich, woher sie kommen.“ Die Aufgaben der
Parteiorganisationen bei der weiteren Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der
SED. Aus dem Referat des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden
des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, auf der Beratung des Sekretariats des ZK der SED
mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen, in: Neues Deutschland, 7./8. Februar 1987, S. 3–11.
Botschafter Wunderbaldinger hatte in seinem Bericht festgehalten: „In Gesprächen mit füh-
renden Funktionären muß man immer wieder feststellen, daß die westlichen Interpretationen,
die SED fürchtet Moskaus Reformen, nicht ganz den Tatsachen entsprechen. Auch Honecker
selbst hat in seinem viel zitierten Referat vor den 1. Sekretären der Kreisleitungen der SED
letztlich sein prinzipielles und festes Einverständnis zur Freundschaft mit der Sowjetunion
unterstrichen, da er ausdrücklich sein Einverständnis und seine Unterstützung gab, die Ent-
scheidung, die sozialistische Demokratie und ihren Inhalt unter den Bedingungen und Tra-
ditionen der Sowjetunion auf breiter Basis zu entwickeln. Dabei wird allerdings vermutlich
mit Recht darauf hingewiesen, daß die nationalen Bedingungen unterschiedlich sind und
aufgrund des Gefälles DDR-Sowjetunion die Reformbewegung nicht einfach kopiert werden
kann. Ein weiterer, immer wieder zu hörender Einwand ist, daß man jetzt den Verlauf der Ver-
änderungspolitik noch nicht vorhersehen könne.“ Botschafter Wunderbaldinger an BMAA,
Berlin (Ost), 12. März 1987, Zl. 1-POL/87, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1987, GZ. 43.03.00/
1-II.3/87 (Die Unterstreichungen erfolgten handschriftlich durch Sucharipa).
11 Gemeint ist der VIII. Parteitag der SED, der vom 15. bis 19. Juni 1971 in Berlin (Ost) stattfand.
Er markiert den formalen Beginn der „Ära Honecker“ und die Festlegung auf die „Einheit von
Wirtschafts- und Sozialpolitik“.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99