Page - 136 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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19.3.1987: Analyse Gesandter Sucharipa
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Dok. 5
Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Reformideen Gorbatschows fin-
det in der SED nach wie vor höchstens hinter verschlossenen Türen statt. In der
Öffentlichkeit schweigt die Parteiführung jedenfalls zu diesem Thema. Für In-
tellektuelle und Künstler scheint Gorbatschow aber ein neuer Hoffnungsträger
geworden zu sein. Ein Großteil der Parteibasis dürfte eine Wartestellung bezogen
haben. Auffallend ist aber, dass offenbar als Ersatz für eine Diskussion über die
Reformidee Gorbatschows eine in den Zeitungen und Zeitschriften der DDR von
der SED gesteuerte Debatte zu Grundsatzfragen des Kommunismus stattfindet.
Konklusionen: Es gibt unterschiedliche Bewertungen der neuen Moskauer Linie.
Ein Teil der Funktionäre dürfte nicht bereit sein, sich schon jetzt für eine Par-
teilinie zu exponieren, die noch nicht einmal in der Spitze feststeht. Wenn Gor-
batschow auf längere Sicht Erfolg hat, wird die DDR-Führung kaum ein Übergrei-
fen von Gorbatschows Ideen auf die DDR verhindern können.
[…]12
7) Zusammenfassende Wertung der Haltung der sowjetischen WP-Verbündeten:
Die Reaktionen sind primär durch die spezifische Interessenlage der jeweiligen
Staaten bzw. deren Parteiführung bedingt. Der polnische Außenminister Or-
zechowski13 hat sich aber gesprächsweise dahingehend geäußert, dass
– vielleicht
mit Ausnahme Rumäniens – alle Paktstaaten der Reform gegenüber prinzipiell
positiv eingestellt seien. Der in westlichen Medien erweckte Eindruck, in der ČSSR
und der DDR würde man sich direkter sowjetischer Einflussnahme in Richtung
auf eine Übernahme des Reformkurses widersetzen, scheint nicht begründet: Ein
gewisses Einwirken dürfte es im Wirtschaftsbereich geben (RGW-Erfordernisse,
Komplexprogramm, gemeinsame Unternehmen), aber – wie oben ausgeführt –
auch nicht mit gleicher Intensität gegenüber den Bruderländern (sh. DDR, Ru-
mänien). Gorbatschow dürfte Versuche von Einflussnahme gerade beim „Demo-
kratisierungs- bzw. Liberalisierungsprozess“ unterlassen – wohl wissend, dass er
den unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen WP-Staaten Rechnung
tragen muss. Ein von Moskau ausgehender direkter Zwang zur Übernahme des
noch lange nicht fertig entwickelten Reformprogramms könnte zu Unsicherhei-
ten, Unruhe und Destabilisierung führen – Erscheinungen, die nicht zu einer
offensichtlich angestrebten Ruhigstellung der Außenpolitik beitragen und somit
Gorbatschows Interessen diametral entgegenlaufen würden.
Wohl aber wird man in der Annahme nicht fehlgehen, dass Äußerungen ins-
besondere in Prag und Ost-Berlin, wonach Gorbatschows Programm Inspiration
und Wertschätzung verdienten, durchaus ernst gemeint sein könnten; sie wären
dann eine Quelle oder wenigstens ein Stimulans für den Weiterbau des eigenen
„nationalen“ Weges.
12 Ausgelassen wurde der Abschnitt zu Polen.
13 Marian Orzechowski, Außenminister Polens (1985–1988), siehe Personenregister mit Funk-
tionsangaben.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99