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2.4.1987: Bericht Botschafter Wunderbaldinger
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Dok. 6
Hinsichtlich der chemischen Waffen sprach Kanzleramtsminister Schäuble die
Erwartung aus, dass es noch in diesem Jahr zu einem weltweiten Abkommen
kommen könnte. Außenminister Fischer brachte bei dieser Gelegenheit nicht –
wie erwartet – das regionale Projekt der Beseitigung von chemischen Waffen
zwischen SED und SPD zur Sprache.9 Beide Seiten erklärten übereinstimmend,
dass sie für eine Reduzierung der strategischen Waffen um 50 % eintreten und
betonten die Notwendigkeit der Einhaltung des ABM-Vertrages,10 und zwar in
seiner engen Interpretation.
Staatsratsvorsitzender Honecker sprach in seinem Gespräch mit Kanzleramts-
minister Schäuble gleich einleitend die bekannten Geraer-Forderungen11 an, ohne
jedoch – wie in der Vergangenheit üblich – allzu sehr zu insistieren. Er unter-
strich die große Zahl von Westreisen,12 die im Jahre 1986 durchgeführt werden
konnten und führte dazu aus, dass die normative Grundlage dieser Reisen zwar
unverändert bleiben werde, die DDR aber eine weitherzigere Anwendung dieser
Bestimmungen vornehmen werde. Es sei daher damit zu rechnen, dass im lau-
fenden Jahr die Reisen von DDR-Bürgern in die BRD weiter ansteigen werden. Er
verwies darauf, dass es bereits in der Vergangenheit Parteimitgliedern ermöglicht
wurde, in die BRD zu reisen. Diese Westreisen würden der DDR im Jahr 150 Mil-
lionen Mark kosten.
Auf die Frage der „Grenzverteidigung“ ging Honecker diesmal eher freimütig
ein, während in der Vergangenheit dieser Punkt immer als innere Angelegenheit
bezeichnet wurde. Er erklärte dazu, dass niemand an der Grenze getötet oder
verletzt werden sollte. Diesbezüglich dürften auch die in letzter Zeit festgestellten
Anstrengungen verstanden werden, dass potentielle Flüchtlinge durch ein Sy-
stem technischer „Vorne-Verteidigung“ nicht mehr direkt bis zur Grenze gelangen
sollen und dadurch nach Möglichkeit der Gebrauch der Schusswaffe verhindert
werden soll.
In ihrer Bestandsaufnahme kamen beide Gesprächspartner überein, dass die
Abkommen über Umweltschutz und über die Zusammenarbeit in Wissenschaft
und Technik bereits weit gediehen seien und mit einem Abschluss noch in diesem
Jahr gerechnet werden kann. Die Verhandlungen über ein Abkommen zur Ent-
salzung der Werra13 wurden hingegen als schwierig und langwieriger eingestuft.
Als wünschenswertes „gemeinsames Investitionsvorhaben“ in den nächsten Jah-
9 SED und SPD hatten am 19. Juni 1985 den in einer 1984 eingesetzten Arbeitsgruppe ausge-
arbeiteten Rahmen für ein Abkommen über eine chemiewaffenfreie Zone vorgelegt. Siehe für
das gemeinsame Kommuniqué und den „Rahmen für ein Abkommen zur Bildung einer von
chemischen Waffen freien Zone in Europa“, in: Neues Deutschland, 20. Juni 1985, S. 3.
10 Der Anti-Ballistic Missiles (ABM)-Vertrag wurde am 26. Mai 1972 zwischen den USA und der
UdSSR geschlossen und regelte unbefristet die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen.
11 Siehe Dok. 1, Anm. 14.
12 Handschriftlicher Randvermerk: IV.2. (Humanitäre Fragen, Flüchtlingsangelegenheiten, Reise-
und Grenzverkehr).
13 Das Problem der Verunreinigung der Werra durch Abwässer des Kalisalzabbaus ist bis heute
nicht gelöst.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99