Page - 148 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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20./21.8.1987: Vorbereitungsunterlagen Treffen Vranitzky – Mittag
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Dok. 7
hat, darstellen soll. Die neugebildete „Arbeitsgruppe für europäische Integration“
wird diesen politischen Auftrag initiativ und offensiv wahrnehmen.
Wesentlicher Bezugspunkt für diese Politik ist das Weißbuch der EG-Kom-
mission,23 das die volle Verwirklichung des „Binnenmarktes“, d. h. die Verwirk-
lichung der sogenannten „Vier Freiheiten“ (im Waren-, Personen-, Dienstleistung-
und Kapitalverkehr) vorsieht. Österreich strebt die umfassende Teilnahme an der
Substanz des EG-Binnenmarkt-Prozesses an.
Österreichischerseits wurde konzeptiv ein „global approach“ gewählt, um sich
dem Binnenmarktprogramm der Gemeinschaft in seiner Gänze zu stellen, und
verschiedene Bereiche
a priori nicht vom Integrationsprozess auszuschließen. Nur
damit können längerfristig das Risiko der Abkoppelung, Probleme im Rahmen
des GATT hintangehalten und volle Reziprozität sowie die Überwindung und
Aufgabe verschiedener Einzelinteressen auf beiden Seiten gewährleistet werden.
In der Praxis werden für die Verwirklichung dieses Konzeptes drei Wege an-
gestrebt: multilateral, auf Basis der Luxemburger Ministererklärung von 1984
vorgezogenen Beginn des Zollabbaus vor. Die Vereinbarungen, die am 1. Januar 1973 in Kraft
traten, beinhalteten im wesentlichen völligen Abbau der Zölle und Handelsschranken zwi-
schen Österreich und der EWG für gewerbliche und industrielle Waren bis zum 1. Juli 1977
und Handelsliberalisierung auf dem Agrarsektor. Die österreichische Seite hatte ursprüng-
lich die volle Einbeziehung des Landwirtschaftssektors in die Freihandelszone verlangt, was
EG-Kommission und EG-Ministerrat aber ablehnten. Im sogenannten „Agrarbriefwechsel“
konnten gegenseitige Konzessionen vereinbart werden. Österreich wurde „volle Handlungs-
freiheit“ gegenüber dritten Staaten, besonders jenen Osteuropas, und im Neutralitätsfall
eingeräumt sowie „jederzeitiges Kündigungsrecht“ und Freiheit von politischen Bindungen
„jeder Art“ gewährt. Die Berücksichtigung der Verpflichtungen, die dem Land aus dem Staats-
vertrag erwuchsen, waren zugesichert worden. Die vertraglichen Regelungen ließen sich je-
doch nicht im ursprünglichen Sinne des (völkerrechtlich allerdings bedeutungslosen) Begriffs
vom „Brückenschlag“ verwirklichen, d. h. weder im Sinne einer multilateralen Assoziierung,
noch durch eine alle Wirtschaftssektoren umfassende Freihandelszone. Die bilateralen Zoll-
und Handelsverträge waren also kein wirklicher Ersatz für die in den 1960er-Jahren schon
anvisierte De-facto-Zollunion, die im Wege einer Assoziierung und durch Etablierung eines
Assoziationsrats ihren institutionellen Ausdruck hätte finden können. Siehe dazu Abkommen
zwischen der Republik Österreich und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, BGBl.
Nr. 466/1972; Abkommen zwischen der Republik Österreich einerseits und den Mitglied-
staaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Gemein-
schaft für Kohle und Stahl andererseits, BGBl. Nr. 467/1972; Bundesgesetz vom 25. Oktober
1972 über die Durchführung der Zollbestimmungen des Abkommens zwischen der Republik
Österreich und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie des Abkommens zwischen
der Republik Österreich einerseits und den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft
für Kohle und Stahl und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl andererseits
(EG-Abkommen-Durchführungsgesetz), BGBl. Nr. 468/1972. Siehe dazu weiterführend Michael
Gehler, Österreichs Weg in die Europäische Union, Innsbruck / Bozen / Wien 2009, S. 81–84;
idem, Austria’s Bridging the Gap and the Failure of „Going-It-Alone“ to Brussels 1955–1972,
in: The Journal of European Economic History 33 (2004) 1, S. 127–178.
23 Vgl. Vollendung des Binnenmarktes. Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat
(Mailand, 28.–29. Juni 1985), Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemein-
schaft, Luxemburg 1985.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99