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6./7.10.1987: Gespräche Mocks mit Kohl und Genscher Dok. 11
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Was die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften betrifft, ist BK
Kohl der Ansicht, dass in 10 Jahren eine durchaus neue Lage vorstellbar sei. Er
gehe davon aus, dass eine weitere Zunahme an Mitgliedern mit einer Entfernung
von den Grundideen des Römervertrages3 Hand in Hand gehen wird. Die Bun-
desrepublik werde, vor allem wenn sie demnächst die EG-Präsidentschaft über-
nimmt, nachdrücklich darum bemüht sein, sämtliche für die Verwirklichung
des Binnenmarktes4 erforderlichen Vorhaben zur Entscheidung zu bringen. Er
hege allerdings Zweifel, ob der politische Integrationsprozess im vorgegebenen
Rahmen vorangehen wird. Diesbezüglich gehe er eher von der Bildung eines
politischen Nukleus aus, der neben der Bundesrepublik Deutschland und Frank-
reich weitere 3–4 Staaten umfassen könnte. Diese engere Gruppierung wäre auf
die Grundlagen eines Annexes oder einer spezifischen Interpretation der Römer-
verträge zu bilden. Im Mittelpunkt eines politischen Nukleus der EG sollte wohl
die Sicherheitszusammenarbeit stehen.
Angesichts dieser Perspektiven für die Weiterentwicklung der Gemeinschaften
wäre es für Österreich wichtig, keine weiteren Abschottungen gegenüber der EG
zu errichten. Auf der anderen Seite sollte die EG möglichst alle Tore gegenüber
Österreich öffnen bzw. offen halten. In dieser Hinsicht sei er bereit, Österreich in
jeder Beziehung entgegenzukommen.
In Anspielung an das Gedenkjahr 19885 meint BK Kohl spontan, dass man an-
gesichts dieser bevorstehenden Reminiszenzen „Rückgrat zeigen“ sollte, um wei-
terhin glaubwürdig zu erscheinen.
Zum Vertrag über die Sicherheit von Kernanlagen meint BK Kohl, dass er an
einer pragmatischen und politischen Lösung interessiert sei. Man müsse in Wien
verstehen, dass auch in München6 ein gewisser Lernprozess Platz greifen müsse.
3 Die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
und Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) wurden am 25. März 1957 von Vertretern der
Regierungen Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs, der Bundesrepublik, Frankreichs und
Italiens unterzeichnet. Vgl. BGBl. 1957 II, S. 753–1224.
4 Ursprünglich war ein „Gemeinsamer Markt“ schon im Rahmen der Römischen Verträge vom
25. März 1957 vorgesehen als Wirtschaftsraum ohne Binnenzölle, in dem freier Verkehr von
Personen, Dienstleistungen, Kapital und Waren gegeben ist. Erst seit dem 1. Januar 1993 gilt
jedoch der „Binnenmarkt“ in vielen Bereichen als erfüllt.
5 Das Gedenkjahr 1988 (offiziell auch „Bedenkjahr“ genannt) stand, 50 Jahre nach dem „An-
schluss“ Österreichs an das Deutsche Reich und den Novemberpogromen, im Zeichen des
Gedenkens an die Verbrechen des NS-Regimes. In Folge der Diskussion um die NS-Vergan-
genheit von Kurt Waldheim entbrannte in diesem Jahr eine heftige Diskussion um Österreichs
Verhältnis zur NS-Zeit. Weiterführend dazu: Heidemarie Uhl, Zwischen Versöhnung und
Verstörung. Eine Kontroverse um Österreichs historische Identität fünfzig Jahre nach dem
„Anschluß“ (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 17), Wien / Köln / Weimar 1992.
6 Im bayerischen Wackersdorf / Oberpfalz sollte eine zentrale Wiederaufarbeitungsanlage (WAA)
für abgebrannte Brennstäbe aus Kernreaktoren in Deutschland errichtet werden. Diese war
eines der politisch umstrittensten Bauprojekte der 1980er-Jahre in der Bundesrepublik. Die
Bauarbeiten starteten im Jahr 1985. Bei heftigen Protesten von Atomgegnern und Umwelt-
schützern kamen drei Personen, darunter ein Polizist ums Leben. Am 31. Mai 1989 wurden
die Arbeiten eingestellt, nachdem der Energiekonzern VEBA (EON) als wichtigster Anteils-
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99