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6./7.10.1987: Gespräche Mocks mit Kohl und Genscher
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Dok. 11
Hinsichtlich der Ausdehnung des Geltungsbereiches über einen 30 km Streifen
hinaus sollte es doch wohl genügen, wenn man eine solche Ausdehnung als bloße
Möglichkeit und nicht als unbedingte Pflicht festschreibt.7
Zu den Fragen des Nord-Süd-Transits stellt BK Kohl fest, dass er persönlich der
österreichischen Sorge wegen einer Überflutung durch den Durchzugsverkehr mit
Sympathie gegenüberstehe. Allerdings müssten Maßnahmen, wie die Aufhebung
der Jahresmautkarte8 früher oder später zu bundesdeutschen Gegenmaßnahmen
führen. Eine weitere Klage der bundesdeutschen Frächter bestünde darin, dass
am Brenner auf österreichischer Seite 6 Spuren verfügbar seien, jedoch nur 2 zur
Abfertigung offen gehalten würden. Er fürchte sehr, dass die bundesdeutschen
Maßnahmen für Österreich schmerzlich sein werden. Man brauche dringend eine
politische Lösung, die nicht ausschließlich den Verkehrsspezialisten überlassen
werden dürfe. Hiebei verweist BK Kohl auf die bevorstehenden trilateralen Ge-
spräche zwischen den Verkehrsministern der BRD, der Schweiz und Österreichs.9
Der HVK10 geht in seiner Replik sofort auf die Frage des Nord-Süd-Transits
ein und stellt den österreichischen Beschluss betreffend die Jahresmautkarte als
eigner der geplanten Betreibergesellschaft mit Cogemar, einer Betreiberfirma für eine WAA
in La Hague einen Kooperationsvertrag signiert hatte und die Anlage in Wackersdorf als
zu langwierig und kostspielig bezeichnete. Da auch österreichische AKW-Gegner und Um-
weltgruppen unter Beteiligung der Umweltministerin Marilies Flemming in Wackersdorf
demonstrierten, waren die Beziehungen zwischen dem Freistaat Bayern unter Ministerpräsi-
dent Franz Josef Strauß und der Republik Österreich unter Bundeskanzler Franz Vranitzky
zeitweise sehr angespannt.
7 Die seit 1985 in Bau befindliche Wiederaufbereitungsanlage im bayrischen Wackersdorf rief
nicht nur in der Bundesrepublik umfassende Proteste seitens der Anti-Atombewegung hervor,
sondern führte in weiterer Folge auch zu bilateralen Verstimmungen mit den Nachbarstaaten.
Neben den Verhandlungen über ein Abkommen betreffend Fragen gemeinsamen Interesses
im Zusammenhang mit kerntechnischen Anlagen fanden seit Sommer 1986 einschlägige Kon-
takte auf Regierungsebene statt. Am 17. Dezember hatte das Bundesverwaltungsgericht klar-
gestellt, „daß auch ausländischen Anrainern Parteistellung im deutschen atomrechtlichen
Genehmigungsverfahren zukommen kann“. Österreich sah seine Position dadurch gestärkt.
Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt nicht abgeschlossenen Vertragsverhandlungen mit der
Bundesrepublik sprach sich die österreichische Bundesregierung gegen die Unterstützung
von Klagen durch Privatpersonen aus, da ein solches Vorgehen „einem gedeihlichen Verhand-
lungsklima nicht förderlich“ wäre und „die Unterstützung von Klagen von Privatpersonen
gegen den Nachbarstaat grundsätzlich negative Auswirkungen auf die gutnachbarlichen Be-
ziehungen haben würde“. Anfragebeantwortung. Bundeskanzler Franz Vranitzky, 24. August
1987, Zl. 353.110/59-I/6/87.
8 In den 1980er-Jahren war die Transitbelastung Tirols nach einer Verlagerung der LKW-
Routen nach Österreich beständig angestiegen und führte zu zunehmenden Protesten seitens
der Anrainer. Österreich reagierte 1986 zunächst mit einer Verteuerung der Jahresmautkarte
und nachdem dies keine verkehrsreduzierende Wirkung zeitigte, 1987 mit der Abschaffung
der LKW-Jahreskarte, wodurch sich der Transit massiv verteuerte.
9 Über die Gespräche der Verkehrsminister konnte weder in den Akten noch in den Medien
Näheres in Erfahrung gebracht werden.
10 HVK =
Herr Vizekanzler, hier Alois Mock, Vizekanzler (1987–1989) und Bundesminister für
Auswärtige Angelegenheiten (1987–1995), siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99