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22.10.1987: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 12
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union herbeizuführen, so hat die DDR-Führung nicht unrecht, wenn sie feststellt,
daß diese Bestrebungen auf die Sowjetunion beschränkt sind, Gorbatschow nicht
verlange, daß andere Bruderstaaten diesen Anstrengungen folgen und selbst ein-
geräumt habe, dass jedes sozialistische Land den jeweiligen Gegebenheiten ent-
sprechend einen eigenständigen Weg zum Sozialismus finden könne. Zweifellos
werden von oben herab die Gorbatschowschen Reformanstrengungen in der DDR
mit der Begründung nicht nachvollzogen, daß hiefür in der DDR keine Notwen-
digkeit sei. Dies ist im großen und ganzen auf wirtschaftlichem Gebiet zutreffend.
Die DDR-Wirtschaft steht im COMECON2 deutlich an der Spitze, wobei allerdings
der Rückstand gegenüber westlichen Industrienationen nicht übersehen werden
darf.
Auswirkungen haben die Gorbatschowschen Äußerungen zur Umgestaltung
zweifellos in der DDR gehabt. Die Kirche konnte auf Regionalsynoden z. B. offen
einen Wehrersatzdienst und eine normative Regelung für Westreisen verlangen.
Dieser größere Spielraum der evangelischen Kirche wird jedoch von staatlicher
Seite eingeräumt und die Kirche versucht in einer Selbstbeschränkung die ge-
zogene Grenze nicht zu überschreiten.
Jugendliche Randgruppen in der DDR können sich in den letzten Monaten
freier artikulieren. Die Sicherheitskräfte zeigen bei gruppenhaftem Auftreten in
der Öffentlichkeit zum Teil erhebliche Geduld und greifen nicht ein. Die Reisen
in westliche Länder – vor allem in die Bundesrepublik Deutschland – haben in
den letzten Jahren von einigen zigtausend auf über 3 Millionen zugenommen.
Die Neudefinition der als Geheimnisträger eingestuften Bürger wird eine Redu-
zierung der Geheimnisträger um zwei Drittel nach sich ziehen und damit einem
weiteren Personenkreis die Reise in den Westen ermöglichen.3
Diese Punkte sowie die Reisen des Staatsratsvorsitzenden in bisher bereits
vier NATO-Staaten4 waren sicherlich nur mit Duldung und zum Teil mit Zu-
stimmung der Sowjetunion möglich. Nach wie vor folgt die DDR jedoch der So-
wjetunion vollkommen in der Verteidigungs-, Abrüstungs- und internationalen
Politik. Die bilateralen Beziehungen mit westlichen Staaten, besonders mit der
Bundesrepublik Deutschland unterliegen darüber hinaus der wachsamen Beob-
achtung und zum Teil Kontrolle durch Polen und die Tschechoslowakei.
Kein anderer Bruderstaat im kommunistischen Lager hat wie die DDR ein grö-
ßeres, wirtschaftlich stärkeres, kapitalistisches Gegenüber, das durch Massen-
medien und in letzter Zeit nicht unbedeutende Besucherströme täglich auf die
2 COMECON =
Council for Mutual Economic Assistance (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe)
3 Bis Mitte der 1980er-Jahre war die Zahl der „Geheimnisträger“ – für die gesonderte Reise-
bestimmungen galten – aufgrund der ausufernden Klassifizierung von Vorgängen als Ver-
schlusssachen auf ca. 190.000 Personen angewachsen. 1987 und 1988 erfolgten Neuregelungen.
Dennoch reduzierte sich die Zahl bis 1989 nur auf ca. 127.000 Personen.
4 Honecker hatte 1985 Italien und Griechenland sowie 1987 die Niederlande und Belgien
besucht.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99