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23.10.1987: Bericht Botschafter Bauer
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Dok. 13
möglicherweise vorhandenes Misstrauen (besonders in den USA und in Frank-
reich; die Davos-Rede hatte nicht überall begeisterte Aufnahme gefunden) über
einen deutschen Sonderweg des Neutralismus usw. zu beschwichtigen. Auch der
BK hat verschiedene öffentliche Anlässe benutzt, um die feste Westverankerung
seines Landes zu unterstreichen. Bei diesen Erklärungsbemühungen mag auch
eine Rolle spielen, dass die westlichen Verbündeten der BRD Angst und Eifersucht
plagen könnten, Bonn würde ihnen in Moskau und in Osteuropa den Rang ablau-
fen (besonders im wirtschaftlichen Bereich).
Die BRD knüpft mit dieser Akzentverschiebung wieder an eine Tradition der
frühen 70er Jahre an, als sie eine aktive Ostpolitik mit gleichzeitigen Schritten im
Westen auszugleichen bemüht war (erhöhter Verteidigungsbeitrag; große Bemü-
hungen um eine Stärkung der EG usw.). Dies geschieht in der Erkenntnis, dass
eine aktive Ostpolitik nur mit Duldung, Verständnis und Unterstützung der west-
lichen Partner möglich ist.
Dahinter steht aber auch die zutreffende Einsicht der BRD, dass der Westen
bisher keine gemeinsame kohärente Strategie gegenüber dem Osten entwickeln
konnte und daher Gorbatschows-Initiativen vor der Öffentlichkeit weitgehend
hilflos gegenübersteht. Die Arbeiten an einer solchen Strategie laufen in KSZE,
bei der EG und NATO wie auch auf den Weltwirtschaftsgipfeln, haben aber
bisher noch wenig sichtbare Ergebnisse gebracht. Genschers Werben für eine
Ostpolitik auf gesicherter westlicher Grundlage ist auch in diesem Rahmen zu
sehen.
Darüberhinaus glaubt die BRD aber auch, dass sie und die Westeuropäer über-
haupt im Zuge der stürmischen positiven Entwicklung zwischen den USA und
der SU ihr eigenes Gewicht besser zur Geltung bringen müssen: Denn immer sind
die Westeuropäer (ähnlich wie die N+N) von der doppelten Angst beherrscht, die
Supermächte bzw. das Ost-West-Verhältnis könnten zu schlecht (Einfrieren der
Ostbeziehungen) oder zu gut (Einigung über ihre Köpfe hinweg) sein.
Niemand bestreitet in der BRD, dass ein „zivilisierteres“ inneres und äuße-
res Verhalten der SU auch im westlichen Interesse liegen würde. Eine verstärkte
Informationspolitik würde in der SU-Öffentlichkeit die Erkenntnisse über den
Westen verbreitern und damit zum Abbau von Feindbildern und des tief verwur-
zelten Misstrauens gegenüber der Außenwelt beitragen, das eines der Hauptpro-
bleme der Ost-West-Beziehungen darstellt.8
Die Bemühungen um das deutsch-sowjetische Verhältnis sind aber nicht nur in
die Stärkung der Westbeziehungen, sondern auch in das Bestreben der BRD ein-
gebettet, im gleichen Takt auch die Beziehungen zu den anderen osteuropäischen
Staaten zu verbessern und zu intensivieren (Besuche Honeckers,9 Schifkovs10 und
8 Die Unterstreichung dieser Passage erfolgte handschriftlich im BMAA.
9 Siehe Dok. 9 und 10
10 Der Vorsitzende des Staatsrates der Volksrepublik Bulgarien, Todor Ch. Schiwkow, stattete der
Bundesrepublik vom 2. bis 5. Juni 1987 einen offiziellen Besuch ab.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99