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12.2.1988: Aktenvermerk Gesandter Sucharipa Dok. 17
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der unangenehmen Affäre erreicht, die die neuentwickelten Beziehungen der
DDR gegenüber Westeuropa entscheidend zu gefährden imstande gewesen wäre
und darüber hinaus auch negative Auswirkungen auf den Fortgang der KSZE-
Verhandlungen befürchten ließ. Am Höhepunkt der Krise hatte sich der Leiter
der US-Delegation beim Wiener Folgetreffen,3 Botschafter Zimmermann,4 da-
hingehend geäußert.
Etwa 100 Regimekritiker hatten sich an der diesjährigen Kundgebung für Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht mit eigenen Transparenten beteiligt, wobei un-
ter anderem demonstrativ das Rosa-Luxemburg-Zitat „Freiheit ist immer nur die
Freiheit des Andersdenkenden“ verwendet wurde. Die DDR-Behörden reagierten
mit Verhaftungen und der Einleitung von mindestens 40 Ermittlungsverfahren
seitens der DDR-Generalstaatsanwaltschaft gegen Mitglieder sogenannter „unab-
hängiger Gruppen“, die an der Demonstration teilgenommen hatten. Unter den
Verhafteten befand sich auch der prominente Liedermacher Stephan Krawczyk5
sowie seine Gattin, die Regisseurin Freya Klier.6
und die westliche Medienberichterstattung riss nicht ab, was in der DDR in gewohnter Ma-
nier als „Einmischung“ gewertet wurde. Für die österreichische Botschaft in Berlin (Ost)
war es erstaunlich, dass auch die DDR-Medien über die Vorkommnisse und die Einleitung
der Strafverfolgung der Beteiligten berichteten. Botschafter Wunderbaldinger, Berlin (Ost),
28. Jänner 1988, Zl. 19-RES/88, BMEIA, ÖB Berlin (Ost), RES 1988 (1–6), Karton 22. Bereits
am 2. Februar berichtete Wunderbaldinger: „Die Andersdenkenden werden in die Freiheit
entlassen und im anderen Deutschland anders denken können. Die Grundsatz entscheidung
hiefür ist getroffen; Detailfragen werden noch ausgehandelt. […] Das ursprünglich ins Auge
gefasste harte Vorgehen gegen das Sakrileg der Störung einer Kampfdemonstration für kom-
munistische Märtyrer wurde nach einiger Diskussion nun doch aufgegeben. Die eher spon-
tan in bis zu dreißig Städten abgehaltenen Fürbitte-Gottesdienste und der doch deutliche
Zulauf und die Solidarisierung mit den ‚besonders Betroffenen‘ haben ein leichtes Unbe-
hagen geschaffen. Der Ausgang muss jedoch durchaus positiv bewertet werden. Es ist zu
keiner neuen Belastung im deutsch-deutschen Verhältnis und auch zu keiner Belastung mit
der Evangelischen Kirche gekommen. Ja, man kann sich sogar fragen, ob nicht die DDR,
die Evangelische Kirche in der DDR und die BRD durch die Lösung dieses Problems vom
17. Jänner 1988 einen Schritt weitergekommen sind auf dem steinigen Weg der Kultur des
Streits und ob es nicht durch die Erfahrung aus diesen Vorkommnissen bereits bei dem
nächsten Vorfall leichter sein wird, eine Lösung zu finden.“ Botschafter Wunderbaldinger an
BMAA, Berlin (Ost), 2. Februar 1988, Zl. 22-RES/88, BMEIA, ÖB Berlin (Ost), RES 1988 (1–6),
Karton 22.
3 Das III. KSZE-Folgetreffen fand von 4. November 1986 bis 19. Jänner 1989 in Wien statt. Im
den weiteren Dokumenten wird das Wiener Folgetreffen in der Regel mit WTF abgekürzt.
4 Warren Zimmermann, Leiter der US-Delegation beim Wiener KSZE-Folgetreffen (1986–1989),
siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
5 Stefan Krawczyk, Liedermacher, Schriftsteller und Dissident, Mitglied der Folk-Gruppe Lied-
ehrlich, Mitarbeit beim illegalen Radiosender „Schwarzer Kanal“ (1987), Verhaftung und Ab-
schiebung in die Bundesrepublik (1988), siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
6 Freya Klier, DDR-Bürgerrechtlerin, 1980 Mitbegründerin der autonomen Friedensbewegung,
1988 unfreiwillige Ausbürgerung, siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99