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12.2.1988: Aktenvermerk Gesandter Sucharipa Dok. 17
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3. Die offensichtlich von den Ereignissen überraschte DDR-Regierung wollte
durch ihr hartes Durchgreifen in der ersten Phase der Unruhen anscheinend
den eigenen Staatsangehörigen die Grenzen einer „Öffnung“ der DDR bzw.
einer grundsätzlichen Umgestaltung aufzeigen.
4. Gleichzeitig sollte möglicherweise dem Westen signalisiert werden, daß auch
in Zeiten einer Öffnung nach außen die „innere Stabilität“ des Staates eisern
verteidigt wird, wobei jedoch das Interesse an einer Fortsetzung des Besuchs-
austausches offen demonstriert wurde. So empfing Staats- und Parteichef
Honecker ungeachtet der gespannten Situation den westdeutschen FDP-Politi-
ker Otto Graf Lambsdorff planmäßig zu einem bereits früher vereinbarten
Gespräch.10 Ebenso fand der schon seit längerem geplante Meinungsaustausch
des regierenden Oberbürgermeisters von Berlin, Diepgen, mit dem Staatsrats-
vorsitzenden statt.11
5. Die Evangelische Kirchenleitung, die zuletzt wiederholt in ihrem Randkreis
agierende alternative Umweltschutz- und Menschenrechtsgruppen vor dem
Zugriff des Staates geschützt hatte, war auch diesmal offensichtlich bemüht,
mittels eines konstruktiven Dialogs mit der DDR-Führung eine „stille Lösung“
zu erreichen. Dabei wurde ausdrücklich betont, daß die Demonstrationen
„nicht gutgeheißen werden können“. Eine solche Äußerung war zweifellos
seitens der DDR-Behörden zur Voraussetzung für die weitere Verhandlungs-
bereitschaft gemacht worden. Hiebei spielte wiederum der immer wieder in
humanitären Angelegenheiten aktiv werdende DDR-Rechtsanwalt Dr. Vogel12
eine bedeutsame Rolle als Vermittler.
6. Der Umstand, daß die Sowjetunion der DDR-Führung erst zu einem relativ
späteren Zeitpunkt verbale Unterstützung gewährte (2 ½ Wochen nach Beginn
der Ereignisse, und erst, nachdem sich ein Wechsel der Vorgangsweise seitens
der DDR-Behörden bereits angekündigt hatte), läßt es nicht ausgeschlossen
erscheinen, daß ein Signal aus Moskau für die schließlich eingeschlagene re-
lativ „milde“ Gangart der DDR mit maßgeblich war. Dies umso mehr, als eine
„harte Lösung“ der Krise der Sowjetunion gerade zum gegenwärtigen Zeit-
punkt äußerst ungelegen gekommen wäre.
Wien, am 12. Februar 1988
Sucharipa m. p.
10 Otto Graf Lambsdorff und Erich Honecker trafen am 4. Februar 1988 in Berlin (Ost) zusam-
men. Zum Gespräch siehe Dokument 63, in: „Koalition der Vernunft“.
11 Eberhard Diepgen besuchte Berlin (Ost) am 11. Februar 1988 und traf mit Erich Honecker
zusammen. Zum Gespräch siehe Dokument 64, in: „Koalition der Vernunft“. Siehe auch Ge-
neralkonsulin Gabriele Matzner an BMAA, Berlin (West), 19. Februar 1988, Zl. 30-RES/88,
ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1988, GZ. 22.18.13/2-II.1/88; Geschäftsträger Lorenz Graf an
BMAA, Berlin (Ost), 18. Februar 1988, Zl. 42-RES/88, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1988, GZ.
22.18.13/1-II.3/88.
12 Wolfgang Vogel, Rechtsanwalt, ab 1963 Beauftragter der Regierung der DDR für die Regelung
humanitärer Fragen, siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99