Page - 190 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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27.4.1988: Bericht Botschafter Bauer
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Dok. 20
nicht vorkommt. Die Botschaft will dennoch nicht ausschließen, dass es sich
um einen – letztlich fehlgeschlagenen – Versuch handelte, durch Unterbetonung
der „Wiedervereinigung“ auch „linkere“ Wählerschichten ansprechen zu können,
und hat Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass angesichts der Brisanz der The-
matik die anfänglich entfallene „Wiedervereinigung“ (die nun im überarbeiteten
Entwurf in Form eines Adenauer-Zitats wieder aufscheint) eine Unachtsamkeit
gewesen sein soll. Eine weitere, allerdings weniger überzeugendere Kritik galt
dem Passus, „das Ziel der Einheit ist von den Deutschen nur mit Einverständnis
ihrer Nachbarn in West und Ost zu erreichen“, der den Nachbarn ein „Vetorecht“
einräumen würde – in seiner überwiegend gelobten Rede vom 7.9.198721 anläß-
lich des Honecker-Besuches hatte der Bundeskanzler eben diese Formulierung
verwendet, die eine realpolitische Selbstverständlichkeit beinhaltet: Dass nämlich
eine Wiedervereinigung gegen den Willen der Nachbarn mit friedlichen Mitteln
nicht durchsetzbar ist.
Die Schlußfolgerungen des einleitend zitierten Berichts, der keinerlei An-
haltspunkte für bevorstehende Deutschland-Initiativen der SU sah, gelten so-
mit weiterhin unverändert. Botschafter Kwizinskij22 hat vor kurzem (Bericht
21.22.51/2-A/88)23 die Verankerung der BRD in der NATO im Interesse der „be-
stehenden territorial-politischen Strukturen in Europa“ begrüßt. Falin24 hatte
in einem kürzlich in Bonn gehaltenen Vortrag erläutert, das „gemeinsame Haus
Europa“25 hätte die bestehenden Strukturen in Europa zu überdachen, kein Be-
wohner dürfe sich auf Kosten des anderen ausbreiten. StS. Hennig meint freilich
(schon aufgrund seiner Rolle im innerdeutschen Ministerium verständlich), dass
Kwizinskijs Äußerung morgen auch anders ausfallen könnte, wobei er an sowje-
tische Überlegungen bezüglich einer Konföderation beider deutschen Staaten so-
wie den Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR und der Streitkräfte der
westlichen Alliierten aus der BRD glaubt. Die Bundesregierung müsse sich vor-
ausschauend auf solche Eventualitäten einrichten, um nicht außen- und innen-
politisch unvorbereitet unter Zugzwang zu geraten. Zum anderen lassen aber die
Hinweise Hennigs und anderer Politiker auf die Schwierigkeiten Gorba
tschows
21 Tischrede des Bundeskanzlers Kohl beim Besuch von Erich Honecker, 7. September 1987, in:
Europa-Archiv, 1987, D 533; Praktische Zusammenarbeit trotz aller Gegensätze. Toast von
Helmut Kohl bei dem Essen in der „Redoute“, in: Neues Deutschland, 8. September 1987, S. 3.
22 Julij A. Kwizinskij, Botschafter der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland (1986–1990),
siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
23 Der Bericht konnte nicht aufgefunden werden.
24 Valentin Falin, Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU (1988–1991), siehe Per-
sonenregister mit Funktionsangaben.
25 Die von Gorbatschow erstmals bei dessen Frankreich-Besuch im Oktober 1985 erwähnte und
in den folgenden Jahren geprägte Metapher umschreibt die Zusammenarbeit in Europa zwi-
schen Ost und West, gleich wie Bewohner eines Hauses, die aufeinander Rücksicht zu nehmen
haben. Das dahinterstehende Konzept skizzierte Gorbatschow in seinem 1987 erschienenen
Buch „Perestrojka und das Neue Denken für unser Land und die ganze Welt“. Siehe dazu
auch ausführlicher Michail Gorbatschow, Das gemeinsame Haus Europa und die Zukunft der
Perestroika, Düsseldorf / Wien / New York 1989.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99