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6.10.1988: Bericht Gesandter Graf
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Dok. 27
scheidend für die Beschleunigung der sozialistischen Entwicklung in der UdSSR
seien. Die derzeit in der UdSSR vor sich gehende Umgestaltung finde in der Par-
tei und im Volk breite Unterstützung. Erich Honecker äußerte sich zu den Ent-
wicklungen in der Sowjetunion dahingehend, dass diese in der DDR „mit nicht
nachlassender Aufmerksamkeit“ verfolgt werden. Die Kommunisten der DDR
wünschen den sowjetischen Freunden Erfolg bei der Fortsetzung dieses histori-
schen Prozesses.
In der gemeinsamen Pressemitteilung wurde zu dem Stand der bilateralen
Beziehungen auf den Gebieten von Wirtschaft und Technik lediglich auf zusätz-
liche Anstrengungen verwiesen. Schon deutlicher ist der Hinweis auf das Erfor-
dernis der Erhöhung des technischen Niveaus und der Qualität der gegenseiti-
gen Lieferungen. Zu den brüderlichen Beziehungen stellte Gorbatschow in seiner
Tischrede dezidiert fest, dass es ihm angenehm sei festzustellen, dass diese jetzt
reifer werden. Elemente deklarativen Charakters und des Formalismus gehören
der Vergangenheit an. Noch konkreter wurde Gorbatschow, als er auf seinen Be-
such anlässlich des Parteitages der SED in Berlin vor zwei Jahren4 verwies und
erinnerte, dass bei dieser Gelegenheit die Herstellung direkter Beziehungen zwi-
schen Betrieben und Forschungszentren beider Länder beschlossen wurde. Er
räumte in seiner Tischrede – die im „Neuen Deutschland“ vom 29. September
1988 im vollen Wortlaut veröffentlicht wurde
– weiters noch ein, dass seither viel
getan worden sei. Darüber hinaus schätzt er mit „Genossen Honecker“ die gelei-
stete Arbeit (auch noch) positiv ein. Dessenungeachtet kamen jedoch beide zur
Schlussfolgerung, dass das Erreichte noch weit hinter den Möglichkeiten und den
Bedürfnissen (beider Länder) liegt. Die Zusammenarbeit werde unter anderem
durch ungenügendes Stimulieren und durch verkrustete Verwaltungsmechanis-
men gebremst.
In dem Teil der Tischrede, in dem Gorbatschow auf die sowjetische Umgestal-
tung zu sprechen kommt, stellt er klar und deutlich fest, dass die Sowjetunion
und die Bruderländer ein gemeinsames Schicksal haben. Und dieses gemeinsame
Schicksal sei keine leere Redensart: Tausende Fäden verbinden die Sowjetunion
mit den Bruderländern und große Wandlungen in jedem Land wirken sich so
oder so auf die Lage der Freunde und Verbündeten aus. Es sei lebensnotwendig,
kompromisslos die Vergangenheit zu analysieren, um durch die Lehren aus der
Vergangenheit eine Wiederholung der Fehler, die mit der Abkehr vom Leninismus
(durch Breschniew?)5 verbunden sind, auszuschließen. Den Tenor seiner Wort-
wahl beibehaltend, spricht Gorbatschow in der gegenwärtigen akuten Problemsi-
tuation von der Notwendigkeit radikaler Wandlungen. Diese radikalen Wandlun-
gen sind vor allem im Bewusstsein der Menschen, in ihrer Einstellung zur Arbeit,
in ihrem Verhältnis zueinander, zu sich selbst vonnöten.
4 Gorbatschow hatte den XI. Parteitag der SED besucht, der vom 17. bis 21. April 1986 stattfand.
Für seine Gespräche mit Honecker siehe die Dokumente 9 und 10 in: Honecker
– Gorbatschow.
5 Leonid Breschnew, Parteichef der KPdSU (1964–1982) und Vorsitzender des Präsidiums des
Obersten Sowjets (1977–1982), siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99