Page - 223 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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6.10.1988: Bericht Gesandter Graf Dok. 27
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Die Sowjetunion verhehle weder vor ihren Freunden noch vor der übrigen
Welt, dass die Umgestaltung viele Schwierigkeiten in sich birgt. Mit Befriedigung
habe er jedoch auf seiner jüngsten Reise in die Krasnojarsker Region feststellen
können, dass sich immer breitere Massen (der Werktätigen) dem Prozess der Ge-
sundung und der Erneuerung des Lebens anschließen.
In den internationalen Beziehungen seien bereits Ergebnisse des neuen poli-
tischen Denkens feststellbar (Mittelstreckenraketen-Vertrag).6 Vorläufig gebe es
jedoch (noch) keine Garantien, dass die eingeleiteten positiven Prozesse unum-
kehrbar seien. Zu den Verhandlungen in Wien hielt er fest, dass das Mandat der
Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Rüstungen nahe sei
und dass es (gute) Voraussetzungen dafür gebe, dass die Wiener Verhandlungen
eine qualitativ neue Etappe für den KSZE-Prozess eröffnen werden.
Im Unterschied zu den kritischen Äußerungen Gorbatschows zeichnen die
Worte Honeckers ein Bild der Genugtuung und Zufriedenheit über das Erreichte.
Beide Seiten hätten erneut ihre Entschlossenheit bekräftigt, beim sozialistischen
Aufbau auch künftig auf das engste zusammenzuarbeiten. Honecker spricht
von vertrauensvoller Zusammenarbeit auf allen Ebenen und ersprießlichen Ar-
beitskontakten zwischen den Werktätigen. Auf wirtschaftlichem Gebiet stellte
Honecker fest, dass die UdSSR seit Jahrzehnten der bedeutendste Außenhandels-
partner der DDR ist und dass höchste Maßstäbe für das weitere Zusammenwirken
auf diesem Gebiet gesetzt sind. Er konstatierte weiters, dass die DDR mit größtem
Interesse und aufrichtiger Sympathie die schöpferischen Anstrengungen der so-
wjetischen Menschen verfolge, die sozial-ökonomische Entwicklung der UdSSR
zu beschleunigen, das Lebensniveau der Menschen zu heben, den Sozialismus (in
der UdSSR) zu stärken und attraktiver zu machen. Der Erneuerungsprozess in der
UdSSR habe daher die Sympathie und Unterstützung der DDR.
Mit Blickrichtung auf den 40. Jahrestag der Gründung des ersten sozialisti-
schen Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden stellt Honecker mit Ge-
nugtuung fest, dass aufopferungsvoller Fleiß und Schöpferkraft mehrerer Genera-
tionen bewirkt haben, dass die DDR zu einem stabilen Staat geworden ist. Bei der
weiteren Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft verstehe es sich von selbst,
dass die DDR mit der UdSSR und den anderen Bruderländern die Erfahrungen
austauschen und von den Erfahrungen der anderen lernen wird. Honecker ver-
merkte mit einigem Stolz, dass die DDR mit berechenbarer und konstruktiver
Politik die jüngste ermutigende Entwicklung auf dem Gebiete der Abrüstung und
Rüstungsbeschränkung initiativreich mitgestaltet hat. Er erinnerte daran, dass
die DDR an der Trennlinie von NATO und Warschauer Pakt ein Eckpfeiler des
Sozialismus im Herzen Europas sei.
Im Hinblick auf den für Ende Oktober vorgesehenen Besuch von Bundeskanz-
ler Kohl in der DDR7 war es für die DDR eine Notwendigkeit, gemeinsam mit
6 Zum INF-Vertrag siehe Dok. 11, Anm. 19.
7 Ein offizieller Besuch war für Oktober 1987 nicht geplant, Kohl besuchte aber 1988 privat die
DDR. Diesen Besuch hatte Kohl mit Honecker bei dessen Besuch in Bonn 1987 vereinbart. In
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99