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6.10.1988: Bericht Gesandter Graf
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Dok. 27
der UdSSR die territorialen und politischen Realitäten zu bekräftigen und darauf
hinzuweisen, dass Souveränität und territoriale Integrität der Staaten in Europa
grundlegende Bedingung für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit (in
Europa)
sind. Beide Seiten sprachen sich für eine weitere Entwicklung der Zusam-
menarbeit mit der BRD auf Grundlage der bestehenden (Ost)Verträge aus. Eine
weitere Verbesserung der Lage um Westberlin sei auf der Grundlage der „dort be-
stehenden Realitäten“ und der strikten Beachtung des Vier-Mächte-Abkommens
vom 3. September 1971 (wohl in der durch die UdSSR und die DDR praktizierten
Interpretation) möglich.8
Oberflächlich betrachtet, erscheint auch nach diesem Besuch Honeckers in
Moskau das bisherige Bild bestätigt: Die DDR anerkennt die Notwendigkeit der
Umgestaltung in der Sowjetunion und begrüßt die Reformbestrebungen Gor-
batschows in der Sowjetunion zur Stärkung des Sozialismus und der Sowjet-
macht. Da die DDR Umstrukturierungen bereits seit dem VII. Parteitag (Beginn
der Ära Honecker) unternommen habe und die (wirtschaftliche) Lage der DDR
zufriedenstellend sei, ergeben sich für die DDR keine Notwendigkeiten, zum jet-
zigen Zeitpunkt Wandlungen à la Gorbatschow durchzuführen.
Dieses Bild trügt jedoch. Bei näherem Hinsehen muss festgehalten werden,
dass Gorbatschows deutliche (Selbst)Kritik, sein vehementes Eintreten für ra-
dikale Wandlungen im krassen Gegensatz stehen zur selbstgefälligen Selbstdar-
stellung der Erfolge der SED und der DDR. Gorbatschow hat bei diesem Besuch
zum ersten Mal (auch direkt) und öffentlich Kritik an der DDR geäußert; zwar
nicht an den Verhältnissen in der DDR selbst, wohl aber an der Form und Güte
der Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten. Die vor zwei Jahren vereinbarten
Direktbeziehungen hat Gorbatschow einer Prüfung unterzogen und festgehalten,
dass die in diesem Zeitraum gemachten Fortschritte ungenügend seien. Deutlich
ausgesprochen hat er auch, dass sich die Veränderungen in der Sowjetunion so
oder so auf die Verbündeten auswirken werden. Honecker hat demgegenüber in
Moskau nicht mehr betont, dass sich der Sozialismus in jedem Staat unterschied-
lich entsprechend den jeweiligen Gegebenheiten entwickeln soll.
Durch die nachdrücklich gewordenen Forderungen der Sowjetunion nach ver-
mehrten Lieferungen und nach höherer Qualität dieser Lieferungen in die UdSSR
wird sich die Wirtschaft der DDR aus dieser Richtung weiterem Druck ausgesetzt
sehen. Hinzu kommen könnte auch
– das bleibt abzuwarten
–, dass die Forderun-
gen nach Offenheit, Umgestaltung und vermehrten Chancen in der DDR selbst
zunehmen könnten. Zum jetzigen Zeitpunkt und beim jetzigen Führungsteam
einem Gespräch im kleinen Kreis hatte der SED-Generalsekretär den Bundeskanzler zu einem
offiziellen Gegenbesuch in die DDR eingeladen, aber auch die Möglichkeit eines privaten Be-
suchs offeriert, was Kohl annahm. Zur geheimen Privatreise des deutschen Bundeskanzlers
in Ostdeutschland, u. a. in Gotha, Erfurt, Weimar und Dresden, Ende Mai 1988, siehe Rainer
Erices / Jan Schönfelder, Westbesuch. Die geheime DDR-Reise von Helmut Kohl, Jena 2006;
dies., Kohls geheime Reise in die DDR, in: Deutschland Archiv 40 (2007) 2, S. 288–296.
8 Vgl. Dok. 1, Anm. 15.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99