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14.6.1989: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 40
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gesehen – die letzte Möglichkeit eines Besuches des sowjetischen Außenmini-
sters in der DDR vor dem Besuch Gorbatschows in Bonn, sachlich gesehen kam
dieser Besuch bereits zu spät, da naturgemäß sämtliche Protokollfragen und Ge-
sprächsthemen zwischen der UdSSR und der BRD längst fixiert waren. Der be-
reits für April vorgesehene Besuch Schewardnadses musste damals wegen der
Unruhen in Georgien3 „verschoben“ werden. Selbstverständlich wurde Scheward-
nadse während seines knapp eintägigen Aufenthaltes in Berlin auch vom Staats-
ratsvorsitzenden zu einem freundschaftlichen Gespräch empfangen.4 Dieser hat
(laut „Neues Deutschland“ vom 10./11. Juni 1989) nicht versäumt, darauf hin-
zuweisen, dass sich die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 zu einem eindeutigen
Bekenntnis der Bürger der DDR zu ihrem sozialistischen Staat gestaltet haben.5
Die Jugend der DDR habe während des Pfingsttreffens ihr enges Bündnis mit dem
Staat, der SED und die Zustimmung zu deren Politik nachhaltig demonstriert.
In seiner Tischrede erklärte Außenminister Oskar Fischer,6 dass die DDR
Schulter an Schulter mit der Partei und dem Lande Lenins für ein vertrauensvolles
Miteinander wirke. Fast etwas makaber muss sein Blick westlich der Staatsgrenze
auf den faschistischen Ungeist in der BRD anmuten, wenn man an die laufenden
Vorfälle von „Rowdytum“ in der DDR denkt (innerhalb der SED wird bereits of-
fen über die für die Parteiführung unerklärlichen neofaschistischen Tendenzen in
der DDR diskutiert).7 Fast überheblich klingt auch die „Überzeugung“ von Oskar
3 Ende der 1980er-Jahre nahmen in Georgien die Auseinandersetzung zwischen den sowjeti-
schen Machthabern und einer erstarkenden Unabhängigkeitsbewegung stetig zu. Am 9. April
1989 lösten sowjetische Fallschirmjäger eine friedliche Demonstration vor dem Regierungs-
gebäude in Tiflis mit Gewalt auf. 20 Menschen kamen dabei ums Leben, zahlreiche wurden
verletzt.
4 Niederschrift über das Gespräch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vor-
sitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, mit Mitgliedern des Politbüros des Zen-
tralkomitees der KPdSU und Minister für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, Eduard
A. Schewardnadse, am 9. Juni 1989 in Berlin (= Dokument 12), in: Interne Dokumente zum
Zerfall der SED und DDR, S. 75–88.
5 „Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 gestalteten sich zu einem eindeutigen Bekenntnis der
Bürger der DDR zu ihrem sozialistischen Staat und zur Fortsetzung des bewährten Kurses
der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Jugend habe während des Pfingsttreffens
ihr enges Bündnis mit dem Staat, der SED und die Zustimmung zu deren Politik nachhaltig
demonstriert.“ Siehe: „Begegnung im Amtssitz des Staatsrates der DDR. Freundschaftliches
Gespräch zwischen Erich Honecker und Eduard Schewardnadse“, in: Neues Deutschland,
10./11. Juni 1989, S. 1–2.
6 „Enger Bruderbund bleibt unverrückbares Fundament. Toast von Oskar Fischer“, in: Neues
Deutschland, 10./11. Juni 1989, S. 2.
7 Siehe zu den „neofaschistischen Ereignissen“ und der Haltung der DDR-Führung Botschafter
Franz Wunderbaldinger an BMAA, Berlin (Ost), 10. August 1988, BMEIA, ÖB Berlin (Ost),
RES 1988 (01–06), Karton 22. Hier analysierte der Botschafter folgendes: „Vorfälle der oben
geschilderten Art wurden in der Vergangenheit verschwiegen. Die dargestellten Erscheinun-
gen sind zwar relativ vereinzelt, haben jedoch in einigen Kreisen der DDR Betroffenheit aus-
gelöst. Für ehemalige Widerstandskämpfer und Verfolgte des Nazi-Regimes ist es schwer
verständlich, wenn Jugendliche, die praktisch seit ihrer Geburt in sozialistischer und anti-
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99