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26.6.1989: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 44
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gemachten Äußerungen zeigen sich durchaus brauchbar für die Argumentation
aus hiesigem Blickwinkel.
Nicht zustimmen kann man der Aussage eines Kollegen der hiesigen Ständigen
Vertretung der BRD, wonach die Bevölkerung der DDR ebenfalls in „Gorbasmus“
verfallen sei. Der Besuch wurde mit (großem) Interesse verfolgt und die Ergeb-
nisse durchaus begrüßt. Die Sympathie dafür, was Gorbatschow repräsentiert,
kam offen zum Ausdruck. Überschwang konnte man jedoch – zum Unterschied
zu der BRD – nicht feststellen.
Ambivalent bleibt das Verhältnis der DDR zur möglichen und ins Auge gefas-
sten Intensivierung der Beziehungen zwischen Bonn und Moskau auf wirtschaft-
lichem und technologischem Gebiet. Berechtigt sind die Befürchtungen, dass die
Stellung der DDR gegenüber Moskau als am weitesten entwickelter Industriestaat
im sozialistischen Lager beeinträchtigt werden könnte. Umgekehrt kann sich die
DDR-Volkswirtschaft unterschwellig davon eine geringe „Entlastung“ erwarten,
da sie unter Umständen in geringerem Maße zu zum Teil als Bürde empfundenen
Lieferungen an die UdSSR herangezogen werden wird. Darüber hinaus ist man
sich in hiesigen Wirtschaftskreisen durchaus bewusst, dass die DDR weder in ih-
rer Kapazität noch in ihrem Niveau in der Lage ist, anspruchsvollen Lieferwün-
schen der UdSSR nachzukommen.
Alles in allem ist der Besuch von Gorbatschow in Bonn glimpflich und ohne
„Gorbasmus“ für die DDR verlaufen. Der Staatsratsvorsitzende wird für den Haus-
gebrauch ein schönes Ergebnis seines am 27. Juni beginnenden Besuches in der
UdSSR7 vorweisen können. Der unabdingbare Besuch Gorbatschows im Jubel-
jahr und vielleicht am Tag der Gründung der DDR (7. Oktober)8 wird sich wohl
als neuerliche Gelegenheit präsentieren, das enge Verhältnis und die Sonderstel-
lung der DDR herauszustreichen. Bleibt lediglich als leichte Variable die Frage, wie
die Bevölkerung auf den fälligen Besuch Gorbatschows reagieren wird.
Der Botschafter:
Wunderbaldinger m. p.
7 Erich Honecker besuchte vom 27. Juni bis 1. Juli 1989 die Sowjetunion, siehe auch Dok. 40,
Anm. 14.
8 Gorbatschow besuchte die DDR anlässlich des 40. Jahrestages am 6./7. Oktober 1989 und for-
derte die DDR-Führung nachdrücklich zu Reformen auf. Siehe dazu die Dokumente 20–21 in:
Honecker – Gorbatschow und Dokumente 46–47, in: Michail Gorbatschow und die deutsche
Frage.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99