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26.6.1989: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 46
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von Leuten, die früher das Wort Sozialismus nicht einmal aussprechen konnten,
verbirgt sich nur zu offensichtlich, dass sie die Rückkehr zu bürgerlichen Verhält-
nissen anpreisen. Den Gegnern des Sozialismus wird es nicht gelingen, den Kom-
munismus einzudämmen, den Sozialismus zu beseitigen.“). Man habe kein Recht,
die Jugend der DDR in der Illusion aufwachsen zu lassen, es gebe keine Feinde
mehr in dieser Welt und der Klassenkampf sei beseitigt. Revolutionäre Erzie-
hung, Erziehung zu Kämpfern sei vonnöten. Denn unter dem Motto der Vielfalt
versuchten Konterrevolutionäre ihr Süppchen zu kochen. Dies müsse man der
Jugend noch besser vom Klassenstandpunkt aus erklären. „Da alle dem Sozia-
lismus feindlichen Kräfte erneut auf den Plan getreten sind, um den Sozialismus
aufzuhalten, braucht diese Zeit eine Jugend, die kämpfen kann, die den Sozialis-
mus verteidigt – wenn nötig mit der Waffe in der Hand.“ Neue Klassenkämpfe
seien vorprogrammiert. Hinter glitzernden Fassaden zeigen sich immer deutli-
cher Fäulniserscheinungen einer niedergehenden Gesellschaft, die die Leninsche
Erkenntnis bestätigen, dass der Imperialismus das höchste und letzte Stadium des
Kapitalismus sei.
Hiesige Pädagogen, die an dem Kongress nicht teilnahmen, konnten nur sto-
isch resigniert den Kopf schütteln, wenn sich der Kongress selbst bescheinigte,
dass er sich in „Ehrlichkeit und Offenheit konstruktiv und kritisch den Erforder-
nissen der Gegenwart und Zukunft gestellt hat“. Selbst für hiesige Verhältnisse
war es für Schriftsteller ein sprachlicher (und auch gedanklicher) Rückfall in
vergangene Zeiten. Denn gerade der Schriftsteller-Kongress3 hat im vergange-
nen Jahr gezeigt, dass es auch anders in der DDR geht. Sicherlich auch vor dem
Kongress war bekannt, dass die oberste „Pädagogin“ der DDR seit nunmehr über
25 Jahren unnachgiebig die reine realsozialistische Lehre hütet. Bestürzt ist der
Beobachter und auch etliche der Pädagogen, die nicht zum Kongress geladen wa-
ren, dass Margot Honecker gerade kurz nach der militärischen Niederschlagung
des Protestes in Peking4 zur Verteidigung des Sozialismus mit der Waffe in der
Hand aufruft. Diese orthodox-dogmatische Haltung gerade in einem für die Ju-
gend so zentralen Bereich steht zum Teil auch im Widerspruch mit Denken und
Überlegungen im mittleren Bereich der SED, wo dem „Imperialismus“ Friedens-
fähigkeit zugestanden wird. Selbst das für diesen Ideologiestaat DDR so wichtige
Feindbild wird in Parteikreisen in Überlegungen einbezogen. Margot Honecker
steht mit ihrem Festhalten und Unterstreichen des Feindbildes „Imperialismus“
in bester Gesellschaft von harten Militärkreisen. Politischer Wandel hat in vie-
len Köpfen der DDR (und darunter nicht wenige Mitglieder der SED bis in den
mittleren Bereich) begonnen. Nicht dekretiert wird er allerdings im so wichtigen
zentralen Bereich der Schule und Ausbildung.
3 Der X. Schriftstellerkongress der DDR fand von 24. bis 26. November 1987 in Ost-Berlin statt.
4 Am 3. und 4. Juni 1989 hatte die chinesische Führung die Proteste am Tiananmen-Platz durch
das Militär gewaltsam und blutig niederschlagen lassen. Die SED rechtfertigte das Vorgehen
der chinesischen Führung.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99