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26.6.1989: Bericht Botschafter Wunderbaldinger
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Dok. 46
In den Rahmen dieses Redens (und Denkens) passt nahtlos der Berichterstat-
ter der 8. Tagung des Zentralkomitees der SED, Joachim Herrmann,5 der unter
anderem „die in die Zukunft weisenden Beratungen auf dem IX. Pädagogischen
Kongress“ als Beispiel bringt, wie stark die Werte des Sozialismus im Volk ver-
ankert seien. Fast ist man versucht, sich die Augen zu reiben, wenn man weiter
liest, dass auch das Votum für die Politik der SED bei den Kommunalwahlen6 ein
Markstein in der Berichtsperiode sei. Auch Joachim Herrmann weist in seinem
Referat auf den „politischen, ideologischen und ökonomischen Druck auf sozia-
listische Länder“ hin, den gewisse Politiker kapitalistischer Länder ausüben, um
sozialistische Länder zur Übernahme kapitalistischer Gesellschaftsvorstellungen
zu veranlassen. Er scheut sich nicht, die Angst und den Unmut der Führung der
DDR ausdrücklich mit Namen zu bezeichnen: „In diesem Zusammenhang erfüllt
uns die Entwicklung in Ungarn mit großer Sorge.“
Zu den Ereignissen in China stellt Joachim Herrmann fest, dass die DDR im
Gegensatz zu westlichen Horrormeldungen zur objektiven Information alle ent-
sprechenden Verlautbarungen und Erklärungen der Partei und Staatsführung
Chinas veröffentlicht hat. Viele Beobachter in der DDR haben sich wohl dieser
„objektiven Information“ nicht angeschlossen, sondern waren erschüttert über
das brutale Vorgehen der chinesischen Militärs und sehen darin einen Rück-
schritt und eine Gefahr für die auf Reformen eingestellten sozialistischen Länder
und für Gorbatschow selbst.
Etwas überraschend ist in dem Bericht von Joachim Herrmann, dass der (ideo-
logische) Erzfeind BRD insgesamt positiv wegkommt. Er mahnt lediglich die um
sich greifenden Aktivitäten neonazistischer Kräfte ein, die allerdings nicht nur die
DDR und die SED beunruhigen.
Das „Hauptkampffeld“ der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik erhält
vom Berichterstatter durchwegs gute bis sehr gute Zensuren. Kritik an den Unzu-
länglichkeiten in der Volkswirtschaft und in der Versorgung kommt kaum und
nur in sehr milder Form zutage. Dem Konsumenten muss es als Hohn anmuten,
wenn Joachim Herrmann meint, dass „die Versorgung der Bevölkerung mit Ge-
müse nicht durchgehend im vollen Sortiment gewährleistet war“. In einigen süd-
5 Joachim Herrmann, Mitglied des Politbüros des ZK der SED (1978–1989) und zuständig für
Medien, befreundete Parteien, Blockparteien und die Nationale Front, siehe Personenregister
mit Funktionsangaben.
6 Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 wurden von der SED in gewohnter Manier zur Akkla-
mation der von ihr aufgestellten Kandidaten inszeniert. Neben allerlei Maßnahmen zur „He-
bung der Stimmung“ wurden auch mehr als eine Million Wahlveranstaltungen durchgeführt.
Bereits im Rahmen dieser wurde Kritik am Wahlsystem geübt, was unter anderem zur Umbe-
setzung einiger Kandidatenlisten führte. Als Egon Krenz am Wahlabend das übliche Ergebnis
von fast 99 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von ebenfalls fast 99 % verkündete, war
das Entsetzen über die unveränderte Vorgehensweise der SED groß, gleichzeitig war aber auch
klar, dass man die Wahlfälschung diesmal zweifelsfrei belegen konnte. Darauf folgten erste
Demonstrationen, in den Wochen danach wurden erste Dokumentationen über das Ausmaß
der Wahlfälschung veröffentlicht. Fortan war jeder gesellschaftliche Protest mit einem Ver-
weis auf die gefälschten Ergebnisse verbunden.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99