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11.7.1989: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 47
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Besorgnis wurde über die Absicht der NATO, die atomaren Kurzstreckenraketen
zu modernisieren, geäußert. Dieses Problem sollte durch eigene Verhandlungen,
die auf eine schrittweise Reduzierung dieser Waffen gerichtet sind, gelöst werden.
Zur Förderung des Abrüstungs- und Vertrauensbildungs-Prozesses zwischen
Ost und West wurde ein Gipfeltreffen der 35 Teilnehmerstaaten an der KSZE
vorgeschlagen.
Auch die Schaffung eines Zentrums zur Verringerung der Kriegsgefahr und
Verhinderung eines Überraschungsangriffs in Europa, eines Organs mit Infor-
mations- und Beratungsfunktionen soll zur Festigung des Vertrauens und der
Sicherheit sowie zur Erhöhung der Stabilität auf dem Kontinent bettragen.
Neben Abrüstungsfragen, in denen offenbar Einigung erzielt werden konnte,
standen wie mir Vizeminister Krabatsch4 – Grundsatzfragen im Ministerium
für Auswärtige Angelegenheiten, der mit der DDR-Delegation in Bukarest war,
mitteilte, auch ideologische Differenzen und Meinungsverschiedenheiten über
die künftige Entwicklung des Sozialismus auf der Tagesordnung. Die Diskussion
stand im Zeichen unterschiedlicher Haltung zu den politischen, wirtschaftlichen
und ideologischen Veränderungen in Osteuropa.
Die Feststellung, dass jeder sozialistische Staat das Recht auf einen eigenen Weg
habe und keinerlei universelle Sozialismusmodelle existieren, sowie niemand das
Monopol auf Wahrheit besitze, wurde von der DDR-Delegation mitgetragen, da die
DDR den Standpunkt vertritt, dass der Aufbau einer neuen Gesellschaft ein schöp-
ferischer Prozess sei, der sich in jedem Land entsprechend seinen Bedingungen,
Traditionen und Erfordernissen vollzieht. Krabatsch deutete auch eine Spaltung
der sozialistischen Länder in zwei ideologische Lager an. Die Sowjetunion und
Ungarn erhoffen sich von der Änderung der Eigentumsverhältnisse sowie der Ent-
wicklung der sozialistischen Demokratie eine hohe ökonomische Effektivität, Die
DDR (SED) und beispielsweise die Tschechoslowakei verfolgten hingegen ein ande-
res Konzept, über das sie jedoch keine öffentliche Auseinandersetzung wünschen.
Die Schlusserklärung5 wurde seitens der DDR von Ministerpräsident Stoph
unterzeichnet, da Generalsekretär Honecker wegen einer akuten Entzündung der
Gallenblase Bukarest bereits am ersten Tag verlassen hat. Honecker sei aus dem
Spital bereits wieder entlassen und habe seinen Jahresurlaub angetreten.
Der Botschafter:
(Wunderbaldinger)
es, in Europa ein sicheres und stabiles Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte auf nied-
rigerem Niveau zu schaffen und die Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und groß angeleg-
ten Offensivhandlungen in Europa zu beseitigen. Zu Vorgeschichte und Verhandlungsverlauf
siehe auch Dok. 20, Anm. 10.
4 Ernst Krabatsch, stellvertretender Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (1987–
1990), siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
5 Für ein stabiles und sicheres Europa, frei von nuklearen und chemischen Waffen, für eine we-
sentliche Reduzierung der Streitkräfte, Rüstungen und Militärausgaben. Erklärung der Teil-
nehmerstaaten des Warschauer Vertrages, in: Neues Deutschland, 10. Juli 1989, S. 1–2.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99