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19.9.1989: Information Gesandter Nowotny Dok. 57
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Dok. 57: Information. Das Gespenst der deutschen Wiedervereinigung, 19.9.1989
Information, Gesandter Thomas Nowotny, Wien, 19. September 1989, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1989, GZ. 22.17.01/
4-II.6/891
Das Gespenst der deutschen Wiedervereinigung
Ein Gespenst geht um in Europa. Es ist das Gespenst der deutschen Wiederverei-
nigung und es erschreckt die Westeuropäer. Diese Furcht steht
– selten eingestan-
den – hinter vielen Diskussionen um die Zukunft der europäischen Sicherheit.
Weniger schreckensgebannt sind offenbar die beiden Supermächte. Sowohl aus
den USA als auch in der UdSSR hört man gelegentlich, dass eine deutsche „Wie-
dervereinigung“ nicht nur möglich, sondern möglicherweise sogar wünschens-
wert sein könnte. Die Erwartung, die man daran in den USA und in der UdSSR
1 Die Information erging an alle Sektionsleiter, das Kabinett des Bundesministers, alle Abtei-
lungen der Sektion II und an die österreichischen Auslandsvertretungen gemäß Liste KSZE.
Die dem Text im Original beigefügten Grafiken (eine Karte zum "Fulda-Gap", siehe Anm.
16,
und eine Darstellung zur Entwicklung des BIP der Bundesrepublik im internationalen Ver-
gleich) entfallen in dieser Wiedergabe. Erstmals wurde die Analyse Nowotnys ausführlich wie-
dergegeben in: Michael Gehler, Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands 1989/90,
in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009) 5, S. 427–452, hier S. 428–430. Der Leiter
der Abteilung II.3 Gesandter Ernst Sucharipa verfasste am 20. September 1989 zu diesen Aus-
führungen einen Aktenvermerk mit dem Titel „Deutsche Wiedervereinigung? Zur Gespens-
terbahnfahrt der Abteilung II.6.“. Der Vermerk sollte an Herrn Sektionsleiter, Kabinett des
Herrn Bundesministers, Alle Abteilungen der Sektion II, Generalsekretariat, ÖB Bonn, Berlin
(Ost) und Moskau, Delegation Berlin und Liste KSZE weitergeleitet werden. Aus nicht bekann-
ten Gründen erfolgte keine Weiterleitung. Der Aktenvermerk lautete:
„1) Es ist zutreffend, dass allerorten wieder zunehmend über die Frage einer deutschen Wie-
dervereinigung (oder ‚Neuvereinigung‘, so der IISS-Direktor Heisbourg) gesprochen wird.
Grundsätzliche Überlegungen hierzu, wie sie im Essay der Abteilung II.6 angebracht werden,
erscheinen daher auch in Österreich unvermeidbar. Hiezu erste kurze Anmerkungen aus Sicht
der Osteuropaabteilung;
2) In der Außenpolitik ist Perzeption oft wichtiger als Realität: Trotz der von der Abtei-
lung II.6. angeführten Umstände, die die Dimension eines aus der BRD und DDR bestehenden
Deutschlands ‚verniedlichen‘, wird in Ost- (und wohl auch West-)Europa der Eindruck (die
Furcht) bestehen bleiben, dass ein solches Gebilde in eine europäische Friedenordnung nicht
integriert werden kann.
3) Trotz der publizitätswirksamen Absetzbewegungen aus der DDR (Größenordnung 1989:
ca. 100.000 Bürger, davon ca. 5/6 ‚legal‘, 1/6 ‚illegal‘) gibt es ein nicht ganz zu unterschätzendes
‚DDR-Nationalbewusstsein‘ und Stolz in die Leistungen des ‚eigenen‘, ‚anderen‘ deutschen
Staates. Die schweigende Mehrheit ist auch in der DDR eine Mehrheit. Auch die sich langsam
formierenden Oppositionsgruppen wollen ihre DDR (reformieren und rundum erneuert, aber
abgegrenzt von der BRD) erhalten.
4) Trotz Perestroika und Glasnost sieht die Sowjetunion allenthalben auf strikte Bewah-
rung des territorialen Status quo. Deutschland-politische Veränderungen, die über ‚Wandel
durch Annäherung‘ hinausgehen, sind daher ohne Auseinandersetzung mit Moskau nicht zu
erreichen.“
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99