Page - 305 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
Image of the Page - 305 -
Text of the Page - 305 -
19.9.1989: Information Gesandter Nowotny Dok. 57
305
kriegszeit die internationalen Beziehungen verankert waren. Vor drei-vier8 Jahren
wäre es auch undenkbar gewesen, dass von einem hochrangigen Politiker und
viele Jahre nach deren Anerkennung durch den Warschauer Vertrag9 – die pol-
nisch-deutsche Grenze wieder in Frage gestellt wird. Das hätte damals, vor drei-
vier Jahren, einer politischen Karriere noch das Ende bereitet. Nicht so heute.10 Es
hat sich vielmehr in der gesamten Einstellung zum europäischen Osten eine neue
Haltung aufgebaut
– offensichtlich und allmählich und erneut der Glaube an eine
besondere „deutsche Ostmission“. Diese Mission geht weit über die „Ostpolitik“
Willy Brandts hinaus. Diese hatte im wesentlichen ja nur das Akzeptieren des Sta-
tus quo zum Ziel. Die Ziele der heutigen deutschen Ostpolitik sind ehrgeiziger. In
ihrem neuen Nationalismus, dem aggressiven Eintreten für die Wiedervereini-
gung, in ihrer Skepsis gegenüber dem Westen und der europäischen Integration
sind die rechts-konservativen „Republikaner“ also das Symptom einer politischen
Stimmungsänderung, von der weit mehr als nur ihre Wähler erfasst sind.
Die DDR scheint in vielem der solideste kommunistische Staat – vor allem in
wirtschaftlicher Hinsicht. Dennoch steht dieser Staat politisch auf tönernen Füs-
sen. Die Bindekraft der kommunistischen Ideologie ist – wenn sie je groß war –
jedenfalls verschwunden. Dies geschah auch in anderen kommunistischen Staa-
ten. Diese anderen Staaten können ihren sozialen Zusammenhalt und ihre Iden-
tität aber auf etwas anderes stützen als auf die kommunistische Ideologie – auf
Religion oder – zumeist – auf Nationalismus. Einen DDR-Nationalismus gibt es
wahrscheinlich nicht. Bestenfalls das Gefühl einer gewissen Heimatverbunden-
heit. Man hat sich in der DDR wahrscheinlich auch an gewisse komfortable Ein-
richtungen des „real-existierenden Sozialismus“ gewöhnt – wie sichere Arbeits-
plätze, billige Grundnahrungsmittel und Wohnungen etc. Aber das alleine sichert
noch nicht die Identität und gerade dieser Komfort wird im Zuge der auch in der
DDR früher oder später notwendigen Wirtschaftsreform allmählich schwinden.
Ebenso wird es immer schwieriger, den Staat mit diktatorischen Maßnahmen zu-
nach der Einzigartigkeit des Holocaust und seine Bedeutung für die Geschichte Deutschlands.
Ernst Reinhard Piper (Hg.), „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die
Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München / Zürich 1987; Klaus
Große Kracht, Der Historikerstreit. Grabenkampf in der Geschichtskultur, in: idem, Die zan-
kende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, S. 91–114.
8 So im Original.
9 Dok. 1, Anm. 17
10 Durch den Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 war der bestehende Grenzverlauf als
die polnische Westgrenze und somit die Oder-Neiße-Grenze anerkannt worden. Siehe Dok. 1,
Anm. 17. Sämtliche bundesdeutsche Regierungen hatten aber seither an dem Rechtsstand-
punkt festgehalten, dass erst eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung endgültig über die
Ostgrenze entscheiden könnte. Just im Sommer 1989 wurde rekurrierend auf diesen Rechts-
standpunkt von einigen CSU-Politikern eine Diskussion über diese Frage losgetreten. Die FDP
und SPD stellten sich dagegen. Vgl. dazu Klaus Ziemer, Zwischen Misstrauen und Hoffnung:
Polen und die deutsche Vereinigung, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Ver-
einigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009,
S. 509–524, hier S. 510 und 514.
back to the
book Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99