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5.7.1990: Gespräche Vranitzkys mit Mazowiecki und Jaruzelski
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Dok. 158
Konfliktminimierung beitragen. Österreich habe sich stets für eine Aufnahme
Polens in den Europarat eingesetzt und werde dies auch in Zukunft tun. Die Zu-
sammenarbeit im Rat der Pentagonale überschätze Österreich nicht, die Zusam-
menarbeit mit Polen sei wichtig, wobei auch andere Möglichkeiten als die der
Pentagonale gegeben seien.
Österreich sei fest entschlossen, die bilateralen Beziehungen sehr eng und
freundschaftlich zu gestalten. Der HBK verwies auf die besonderen Bemühungen
der österreichischen Wirtschaft, mit polnischen Unternehmen zu kooperieren.
Er vertrat die Auffassung, daß die westliche Welt nicht nur verbal, sondern mit
konkreten Fakten Polen behilflich sein müsse.
PM Mazowiecki: Innenpolitische Situation in Polen: Die Rezession bringe es
mit sich, daß die Bevölkerung, die bisher geduldiger gewesen sei, als man gedacht
habe, ungeduldig werde; die erhofften positiven Resultate kämen nicht rasch und
spürbar genug. Die Demokratisierung sei ein schwieriger Prozess. Die Parteien-
landschaft sei in Polen komplizierter als in anderen Staaten, nicht zuletzt deshalb,
da das Wiederaufleben alter politischer Parteien hier nicht als zielführend ange-
sehen wird. Jene Kräfte, die bisher vereint den Totalitarismus bekämpft hätten,
strebten nun auseinander. Neue Strukturen begännen sich herauszukristallisie-
ren. Es existiere eine gewisse Empfänglichkeit für populistische Schlagworte. Als
Alternative zu einer modernen Demokratie wären für ihn Anarchie und Chaos
denkbar. Europa könne und sollte zu diesem Demokratisierungsprozess bei-
tragen, eine rasche Hilfe sei notwendig.
Frage der Verschuldung: Polen habe jährlich 4,5 Mrd. US-Dollar Zinsen zu
zahlen. Das sei eine gewaltige Belastung, insbesondere für die in Angriff genom-
mene wirtschaftliche Reform. Unter Hinweis auf den Schuldenerlaß, der der BRD
195311 gewährt worden sei, brachte Mazowiecki die Hoffnung zum Ausdruck, daß
auch Polen eine Schuldenreduktion bzw. eine Herabsetzung der Zinsen gewährt
werde. Diesbezüglich hätte er ein Schreiben an die Staats- und Regierungschefs
des Weltwirtschaftsgipfels in Houston gerichtete. Die jüngste Entscheidung des
Pariser Klubs12 zugunsten Polens stimme ihn persönlich sehr zufrieden. Es könne
dies aber nur ein erster Schritt sein. PM Mazowiecki ersuchte um österreichische
Unterstützung bei seinen diesbezüglichen Bemühungen.13
Der HBK zur Schuldenfrage: Es handle sich hier nicht nur um eine wirtschaft-
liche bzw. finanzpolitische, sondern auch um eine politische Frage, bei deren
Diskussion Politiker und Finanzexperten nicht unbedingt zu denselben Resul-
taten kommen müßten. Verweis auf die Gespräche Ende November 1989 zwi-
11 In dem am 27. Februar 1953 in London unterzeichneten Abkommen über die deutschen Aus-
landsschulden wurde die Prüfung von Reparationsforderungen bis zur endgültigen Regelung
der Reparationsfrage, die in einem Friedensvertrag erfolgt wäre, zurückgestellt.
12 Der Pariser Club ist ein informelles Gremium staatlicher Gläubiger, in dem die Mitglieder zu-
sammentreten, um Schuldner, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten, zwecks Umschuldung
beziehungsweise Schuldenerlass zu unterstützen.
13 Unterstreichung im BMAA.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99