Page - 648 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
Image of the Page - 648 -
Text of the Page - 648 -
5.7.1990: Gespräche Vranitzkys mit Mazowiecki und Jaruzelski
648
Dok. 158
Staatspräsident Jaruzelski hob die Wichtigkeit des freundschaftlichen Verhält-
nisses zwischen beiden Ländern hervor, das sich in guten wie in schlechten Zei-
ten bewährt habe. Er brachte seine Freude über den Besuch zum Ausdruck, der
für das bilaterale Verhältnis neue Impulse geben werde. Die geänderte politische
und wirtschaftliche Situation erfordere von Polen besondere Anstrengungen und
Adaptionen. Die Kontakte mit Österreich stellten gerade jetzt eine Art „Labora-
torium“ dar.
Der HBK unterstrich in seiner Antwort die Qualität der österreichisch-polni-
schen Beziehungen. Politische wie wirtschaftliche Kontakte sollten eine Stärkung
der Wirtschaft Polens zum Ziel haben. Das sei freilich nicht ganz einfach, da Polen
nicht das einzige Land sei, das solcher Hilfe bedarf.
Auf eine Frage des HBK erwiderte Staatspräsident Jaruzelski, es sei seiner Mei-
nung nach von Österreich nicht naiv gewesen, der früheren Regierung Kredite zu
geben. Auch damals habe sich das Land in einer schwierigen Situation befunden.
Es sei vielleicht seitens Polens naiv gewesen, daß man weitere Kredite in dieser
Höhe erbeten habe.
Zur Verschuldung Polens20 meinte Staatspräsident Jaruzelski, sie sei eine große
Last für das Land und selbst langfristig kaum lösbar. Im Gegensatz zur Zeit zwi-
schen 1971 und 81, als Polen seine Schulden entsprechend den Fälligkeiten be-
zahlt habe, sei es nun in einer sehr viel schwierigeren Situation. Ab 1981 habe es
eine Reihe Fehlinvestitionen gegeben; andererseits seien aber auch eine Reihe von
Menschen vom „sozialen Netz“ aufgefangen worden, die sonst arbeitslos gewesen
wären.
Zur deutschen Frage21 führte Staatspräsident Jaruzelski aus, Polen wünsche
die vertragliche Anerkennung seiner Westgrenze durch das vereinte Deutsch-
land. Deutschland könne ein sehr positiver Faktor für Polens Wirtschaft sein,
eine Hoffnung im Hinblick auf die neue Trennung Europas in technologischer,
wirtschaftlicher und ökologischer Hinsicht.
Der Warschauer Pakt22 sei dabei, seinen Charakter zu verändern. Bei der jüng-
sten Tagung des Rates in Moskau23 hätten alle Beteiligten sich für eine Weiterexi-
stenz des Paktes ausgesprochen, allerdings sei klar geworden, daß eine neue,
flexible Form gefunden werden müsse.24 Er begrüße die volle Souveränität jedes
Mitgliedstaates. Der Pakt erwarte sich nun in der Frage der Annäherung zum We-
sten eine Resonanz auf die eingeleiteten Veränderungen. In der Frage der Vertrau-
ensbildung seien große Schritte gemacht worden; Österreich und der HBK hätten
dabei die Rolle eines wichtigen Vermittlers. Die Lage in der UdSSR25 halte er für
20 Unterstreichung im BMAA.
21 Unterstreichung im BMAA.
22 Unterstreichung im BMAA.
23 Der Politisch Beratende Ausschuss des Warschauer Paktes war am 7. Juni 1990 in Moskau zu-
sammengetroffen. Siehe dazu bereits Dok. 155, Anm. 9.
24 Dieser Satz wurde im BMAA am Seitenrand mit einem Fragezeichen versehen.
25 Unterstreichung im BMAA.
back to the
book Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99