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16.7.1990: Bericht Botschafter Binder
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Dok. 160
10. Über Kernpunkte des 2. Staatsvertrages, wie Stimm- und Zählmodus der
Wahlen am 2.12., Abtreibung,11 Sozialfragen, hat sich die Regierungskoali-
tion noch nicht geeinigt.
11. Nach dem 1. Staatsvertrag über die Wirtschaft-, Währungs- und Sozialunion
bleibt die Bodenreform 1945–49 unverändert bestehen.12 Spätere Enteignun-
gen sollen nach Möglichkeit rückgängig gemacht, wo nicht möglich, entschä-
digt werden.
12. Im vereinten Deutschland soll ein Ministerium für den Wiederaufbau der
DDR geschaffen werden, mit Herrn de Maizière als Ressortchef.13
Wirtschaft:
1. Die Prognosen für die unmittelbare Zukunft der hiesigen Wirtschaft sind
schlecht. Man rechnet, dass rund ein Drittel der Betriebe schließen muss, bei
fast 50 Prozent ist dies fraglich und hängt wohl davon ab, wie weit man bereit
ist, diese zu subventionieren. Von den rund 8,9 Millionen Arbeitnehmern be-
fürchtet man, dass bis zu zwei Millionen noch in diesem Jahr arbeitslos sein
werden. Der von verschiedenen Seiten angekündigte „heiße Herbst“ hat be-
reits jetzt im Sommer begonnen und es finden fast täglich von verschiedenen
Berufsgruppen Demonstrationen und Streiks statt, von Landwirten und Me-
tallarbeitern, Studenten und Magistratsangestellten, Handelsangestellten und
Lehrern.
2. Die Investitionen aus der BRD blieben trotz entsprechender Aufrufe des Bun-
deswirtschaftsministers, aber auch der gesamten Bundesregierung und des
deutschen Industrie- und Handelstages, weit hinter den Erwartungen zurück.
3. In der Landwirtschaft gibt es eine Überproduktion, die nicht absetzbar ist, so-
dass die Gemüseernte teilweise eingepflügt werden muss bzw. Milch verfüttert
wird. Auch Fleisch ist zu viel vorhanden, das die Bauern nicht absetzen können.
4. Die DDR wird mit westdeutschen Konsumgütern und Nahrungsmitteln über-
schwemmt, nur 15 Prozent des Warenangebotes stammen aus der DDR. Dazu
kommt, dass diese westlichen Konsumgüter beträchtlich teurer sind als im
Westen. So z. B. wurde festgestellt, dass Bananen in Westberlin etwa 2,-- DM,
in Ostberlin ca. 3,-- DM, in Leipzig hingegen 7,-- DM kosten, Milch in Cottbus
das dreifache von Westberlin.
11 Siehe dazu Dok. 151, Anm. 7.
12 Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR
war am 1. Juli 1990 in Kraft getreten. Die DDR hätte einer entsprechenden Rückgängigma-
chung nicht zugestimmt bzw. auf sowjetischen Druck hin nicht zustimmen können. Konzes-
sionen über die Zulassung von Eigentumserwerb wurden in einem Anhang gemacht.
13 De Maizière war vom 3. Oktober bis 19. Dezember 1990 Bundesminister für besondere Auf-
gaben. Am 17. Dezember bat er um die Entlassung aus dem Ministeramt, da die gegen ihn vor-
gebrachten Vorwürfe einer Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit einer
Klärung harrten.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99