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19.7.1990: Information Gesandter Sucharipa
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Dok. 163
tim, die Frage nach den Hintergründen für die über alle Erwartung positive Hal-
tung der Sowjetunion oder – besser gesagt
– Gorbatschows zu stellen:
2) Die von Gorbatschow eingenommene Position lässt sich als Folge einer Kom-
bination von einerseits neubestätigter innenpolitischer Stärke des sowjetischen
Präsidenten aufgrund des „gewonnenen“ Parteitages8 und andererseits Aner-
kennung der außenpolitischen Schwäche seines Landes erklären: Im vollen Be-
wusstsein des ihm durch die Bestätigung seiner (derzeitigen) unanfechtbaren
Rolle zugewachsenen außenpolitischen Spielraumes hat Gorbatschow – offen-
bar ohne weitere Abstimmung mit anderen immerhin auch maßgebenden Kräf-
ten (Militärs etc.) – erfolgreich versucht, aus dem sowjetischen Rückzug aus der
DDR und der Aufgabe alter deutschlandspolitischer9 Positionen der Sowjet-
union (Beharren auf Neutralität Gesamtdeutschlands) zum vielleicht letztmögli-
chen Zeitpunkt möglichst viel Kapital (im übertragenen wie vermutlich auch im
eigentlichen Sinn des Wortes) herauszuschlagen.
3) Gorbatschow hat dabei immerhin folgende Pluspunkte für sein Land sicher-
stellen können:
– Reduktion der gesamtdeutschen Truppenstärke auf 370 000 Mann und damit
immerhin (bei Einbezug der Mannschaftsstärke der NVA10) um 45 %;
– offensichtliche Übernahme der – erheblichen – Kosten des sowjetischen Trup-
penabzuges durch Gesamtdeutschland (siehe Absichtserklärung betr. Vereinba-
rung über Auswirkungen der DM-Umstellung);
– weitere aktive Bemühungen der BRD für westliche Hilfe an Sowjetunion;
– Zusage für Abschluss eines bilateralen umfassenden Vertrages (wohl politische
Konsultationen und Wirtschaftshilfe);
4) Die Vereinbarung Kohl-Gorbatschow ist ohne vorherige Information der west-
lichen Partner abgeschlossen worden und signalisiert damit auch eine künftige
Eigenständigkeit deutscher Außenpolitik.
5) Präsident Gorbatschow könnte auch mit dem Gedanken spekulieren, dass nach
erfolgtem sowjetischen Truppenabzug in der BRD die negative Stimmung gegen
ausländliche11 Militärpräsenz generell weiter anwachsen könnte und somit viel-
leicht in weiterer Zukunft doch noch ein traditionelles Ziel sowjetischer Politik
erreicht werden könnte.
8 Der XXVIII. Parteitag der KPdSU fand vom 2. bis 13. Juli 1990 statt. Gorbatschow wurde als
Generalsekretär der KPdSU wiedergewählt. Seine Machtposition innerhalb der Partei war
jedoch geschwächt, da die Gegner des Reformkurses im ZK bereits eine Mehrheit besaßen.
9 So im Original.
10 NVA=Nationale Volksarmee.
11 So im Original.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99