Page - 715 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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18.1.1993: Abschlussbericht Botschafter Grubmayr Dok. 180
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Die Wiedervereinigung wurde juristisch als Beitritt der neuen – erst wieder
geschaffenen – Länder zu der alten Bundesrepublik auf Grund des früheren Ar-
tikels 23 des Grundgesetzes2 konzipiert (man hatte daraufhin diesen Artikel eilig
aufgehoben, um nicht Territorialansprüche gegen Polen zu signalisieren – Schle-
sien, Pommern, Ostpreußen hätten in einer
– nicht zu fernen?
– Zukunft vielleicht
auch einmal auf diese Bestimmung zurückgreifen können). Der Einigungsvertrag
versuchte der Fülle von Problemen, die sich aus der Verschmelzung zweier ideo-
logischer konträrer Systeme ergeben, eine bundesrepublikanisch einwandfreie
legale Basis zu geben. Aber es ergab sich keine glatte Rechenoperation 10 ½ + 5 ½
= 16.
Der geistige Strukturwandel im Westen Deutschlands wird hier mit einer Art
Verwunderung über sich selbst zur Kenntnis genommen: man hat nicht nur in
einer finanziell immer schmerzhafter werdenden Operation die „Ossis“ inhaliert,
sondern die Deutschen müssen plötzlich auch über die innere und äußere Neuge-
staltung ihres größeren Vaterlandes, welches durch den 2+4-Vertrag die volle äu-
ßere Souveränität wiedererlangt hat, sehr gründlich und zum Teil mit „agonizing
reappraisals“ nachdenken.
Daraus ergeben sich eine Reihe von Detailproblemen, mit denen man sich
heute mit mehr oder minder großem Erfolg herumschlägt. Im Inneren beunru-
higen den Bürger im alten Bundesgebiet die von ihm gefürchteten negativen Aus-
wirkungen des vom Bundeskanzler geforderten Solidarpaktes. Was das makroso-
zial und makroökonomisch heißt, ist klar: Konsum- und Investitionsverzicht im
Westen zugunsten von Verbesserungen im Osten, sodass dort der Wiederaufbau
schneller vorankommt und die Angleichung im Lebensstandard der neuen Bun-
desländer möglichst bald aus eigenem generiert werden kann. Die öffentlichen
Transferleistungen aus dem Westen können nicht in der bisherigen Größenord-
nung weitergehen, darüber ist man sich einig (so sind z. B. die Renten im Osten,
die am 1.1.1991 46 % der Westrenten betragen haben, per 1. Jänner d. J. auf 66 %
der Renten in der alten Bundesrepublik angehoben worden: eine Rente, die 1991
773 DM betrug, beläuft sich heute auf 1.188 DM).
Außen- und innenpolitisch bedeutsam ist das Asylproblem, wo es in den letz-
ten Tagen eine endgültige (?) Einigung der Parteien gegeben hat;3 sehr spät für
2 Zu Artikel 23 des Grundgesetzes siehe bereits Dok. 125, Anm. 3.
3 Aufgrund massiv steigender Asylwerberzahlen kam es in Deutschland 1993 zur Modifikation
des Artikels 16 des Grundgesetzes betreffend politisch Verfolgte, um „Asylmissbrauch“ vor-
zubeugen. Nachdem sich CDU / CSU, SPD und FDP Ende 1992 auf den sogenannten „Asyl-
kompromiss“ geeinigt hatten wurde dieser am 26. Mai 1993 im Bundestag beschlossen. Die
wichtigsten Neuerungen betrafen die „Drittstaatenregelung“, „sichere Herkunftsstaaten“ und
den Umgang mit Asylwerbern auf Flughäfen. Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes wurde
aufgehoben und durch Artikel 16a ersetzt. Dieser lautete: (1) Politisch Verfolgte genießen
Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Euro-
päischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung
des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze
der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Euro-
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99