Page - 717 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
Image of the Page - 717 -
Text of the Page - 717 -
18.1.1993: Abschlussbericht Botschafter Grubmayr Dok. 180
717
betreffend peace keeping and peace making7 auf eine gemeinsame Plattform zu-
sammengerauft, aber die SPD spielt noch nicht mit, zu viel Überbordwerfen von
moralisch-abstinenten Prinzipien hat man ihr in letzter Zeit abverlangt. In der
Führung der Sozialdemokraten sieht man ein, dass man sich ändern muss
– aber
man setzt sich an der Mittelschicht und der Basis der Partei nicht durch und es
ist leicht möglich, dass nun doch in einem konkreten „Einsatz“-Fall das Bundes-
verfassungsgericht in Karlsruhe den wahrscheinlich nicht zu erlangenden Par-
lamentsentscheid supplieren müssen wird. Jedenfalls ist die Frage des Ausmaßes
der internationalen Dispositionsfähigkeit Deutschlands ein Dauerbrenner der
hiesigen Politik und trägt zu einer gewissen Perplexität des durchschnittlichen
Deutschen bei: „Wie sollen wir eigentlich sein?“
Eine Frage, welche auch in diesen Rahmen hineinragt, ist die Übersiedlung
von Parlament und Regierung nach Berlin. Hier gibt es laufend widersprüchliche
Indikatoren über die zukünftigen Perspektiven. Eine Revision des einschlägigen
Bundestagsbeschlusses vom Juni 19918 (es handelt sich ja nicht einmal um ein
Gesetz) nach den Wahlen von 1994 im Sinne eines Verbleibs eines Großteils des
öffentlichen Geschehens in Bonn wird heute nicht mehr ausgeschlossen, obwohl
man vor kurzem in Berlin einen kleinen konkreten Schritt in Richtung baulicher
Vorbereitung des Bundestagsumzugs gesetzt hat. Bonn ist dagegen voll mit Auf-
klebern: „Wir sind die Steuerzahler, wir brauchen keinen Umzug nach Berlin“ …
Eine Verlagerung des politischen Schwergewichts nach Berlin wird mittelfristig
auch außenpolitisch von Bedeutung sein: die Nähe der Grenze im Osten wird
schmerzlicher spürbar werden, Hinterfragungen dieses Zustandes werden zu-
nehmen, sofern die europäische Integration nicht bis dahin alle diese „kleinen“
7 Peace Keeping bzw. Peace Making bezeichnet friedenserhaltende Missionen im Rahmen von
Militäreinsätzen der Vereinten Nationen. Diese Unternehmungen sind zu unterscheiden von
Beobachtermissionen und peace enforcing, also friedenserzwingenden Maßnahmen nach Ka-
pitel VII der Charta der Vereinten Nationen, die eine aufgrund von Einstimmigkeit zustan-
degekommene Resolution des UN-Sicherheitsrates voraussetzen und die ihrerseits Art, Dauer
und Umfang des Militäreinsatzes bestimmen.
8 Der Bundestag tagte in der Hauptstadtfrage des geeinten Deutschlands mit einer nament-
lichen Abstimmung und einer mehrstündigen Debatte am 20. Juni 1991. Denkbar knapp
entschieden sich 338 Abgeordnete für Berlin und 320 für Bonn. Die Unterlegenen versuchten
noch lange, insbesondere unter Hinweis auf die Höhe der Kosten des Umzugs der Ministerien,
die Entscheidung infrage zu stellen oder gar hinauszuzögern. Die Bundesregierung unter
Helmut Kohl blieb aber standfest, beharrte auf dem Umzugsbeschluss und begann mit dem
Neubau eines Regierungsviertels im Berliner Spreebogen. Aus finanziellen Gründen sollten
nicht alle Ministerien einen Neubau erhalten. Das Außenministerium nutzte das ehemalige
Gebäude des ZK der SED. Das ehemalige Reichstagsgebäude wurde für den Bundestag um-
funktioniert. Bonn wurde dagegen Bundesstadt und erhielt wichtige Politikbereiche. Das
Familien-, Sozial-, Landwirtschafts- und das Verteidigungsministerium verblieben dort wie
auch das Bundeskartellamt. Der Bundesrechnungshof wurde an den Rhein verlegt. Die Region
Bonn erhielt ferner Ausgleichszahlungen für den Verlust des Parlamentssitzes in Höhe von
circa 1,6 Milliarden D-Mark.
back to the
book Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Title
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Subtitle
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Editor
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 792
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99