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vom „Bankdirektor bis zum Handlungsgehilfen, von der Diva bis zur Stenoty-
pistin eines Sinnes“115 sei:
Man schilt die Berliner zerstreuungssüchtig;
der Vorwurf ist kleinbürgerlich. Gewiß
ist die Zerstreuungssucht hier größer als in der Provinz, aber größer und fühlbarer
ist auch die Anspannung der arbeitenden Massen – eine wesentlich formale An-
spannung, die den Tag ausfüllt, ohne ihn zu füllen. […] Der Hang zur Zerstreuung
fordert und findet als Antwort die Entfaltung purer Äußerlichkeit. […] Hier, im
reinen Außen, trifft es sich selber an, die zerstückelte Folge der splendiden Sinnes-
eindrücke bringt seine eigene Wirklichkeit an den Tag.116
Die Prinzipien von urbaner Anonymität, Mobilität und Entwurzelung werden
von den in Berlin zum Boxen zusammenströmenden Publikumsmengen begeis-
tert aufgenommen.117 In den Texten vieler Autoren gerät die Masse zur Ge-
staltmetapher für eine Publikumsgesamtheit, die gewissermaßen durch die Ver-
schmelzung von Unterhaltungs-, Wochenend- und Freizeitindustrie118 bestimmt
scheint. Die „Vorstellung eines Gesellschaftskörpers“119 bilde, so Foucault 1975,
das „große Phantasma“120, auf dessen Grundlage die Kollektive der Weimarer
Sportgesinnungsgenossen vorübergehend Heimat finden, im Boxen zumindest
rundenlang. Sport generell wird in den 1920er-Jahren zum „Überbauphäno-
men“121 erhoben. Sport ist die bestimmende Signatur, die, wie eingangs erwähnt,
dem „Zeitalter ihren Stempel“ 122 aufdrückt: „Nie wurde mehr Sport gewünscht,
getrieben, geplant als heute, nie mehr von ihm erhofft“123, staunt Ernst Bloch
in Übung des Leibs, tout va bien. Das „Sportherz“ habe, so Bloch, das „Bierherz“
124 verdrängt. Rolf Nürnberg, Mitbegründer und bis 1933 Redakteur des Ber-
115 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
116 Ebd., S. 210f (Hervorh. im Orig.)
117 Vgl. Rase 2003, S. 107f
118 Vgl. Müller 2004, S. 74; Metzger 2006, S. 44f
119 Foucault 1976, S. 105
120 Ebd.
121 Müller 2004, S. 13
122 Geisow 1925, S. 46; Alfred Polgar merkt in der Prosavignette Der Sport und die Tiere noch 1932
an: „Man schwimmt nicht wie ein Fisch und läuft nicht wie ein Wiesel, ohne etwas spezifisch
Fischiges oder Wiesliges erworben und dafür etwas spezifisch Menschliches abgegeben zu ha-
ben.“ (Polgar 2004b, S. 98)
123 Bloch 1959, S. 524
124 Ebd.; Victor Klemperer notiert gegen Ende des Ersten Weltkriegs in sein Tagebuch: „Der erste
Bedränger des literarischen Raums war der Sport. […] Vordem war er der Sport an sich gewe-
sen, eine ehrliche, eindeutige Sache. […] Boxer […] waren […] Boxer […] gewesen und sonst
nichts. Jetzt aber waren sie mehr: die Bewahrer, die Förderer und Vorkämpfer der nationalen
64 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440