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liner 12-Uhr-Blattes, umreißt in seiner populären Monografie Max Schmeling
die „neue Sportidee“125:
Sie lief mit den anderen Mächten im Volke. Vorbei war der Millionen-Ueberfluß,
zu Ende ging der Nimbus der Behängten, zu Ende ging die gut ernährte Beschau-
lichkeit, zu Ende die epikuräische Sentimentalität, das kokette Musentum, der to-
lerante Psychologismus, das Leben in gepflegten Reflexionen. Die Häuser wurden
ohne Schnörkel und Putz gebaut, denn wir wurden arm. Die Dichter schrieben
hart, eckig und ungeschliffen, denn jetzt wollten sie von der Wahrheit sprechen
und nicht von der Schönheit.126
Zwischen 1924 und 1930 werden in Deutschland mehr Arenen und Hallen für
die Sportausübung und den Sportkonsum gebaut als je zuvor127; von dem Schnel-
ler, Weiter, Höher werden Buchverkaufsbestenlisten128 und Kunstproduktionen
geprägt129: Joseph Breitbach spricht in seinem Roman Die Wandlung der Susanne
Dasseldorf von „Sportfexerei“130. Sport soll jenes „Existenzloch“131 ausfüllen, das
die Wirtschaftskrise ab 1929 zur gleichsam bodenlosen System- und damit Sinn-
krise auszuschachten beginnt. Die Epoche gibt sich der „stürmischen Bewegung
hin mit mehr Sportgeist als andere Zeiten“132, erkennt Heinrich Mann – und
sucht die Gegensätze von Sportboom und um sich greifender Existenzangst zu
harmonisieren: „Die beiden Kennzeichen eines Lebensgeschlechts können sehr
wohl sein, daß es Sportgeist hat und daß es sich fürchtet. So ist dies Geschlecht
der beginnenden europäischen Demokratie.“133 „Alle sporten sie jetzt“134, stichelt
dagegen Siegfried Kracauer im Aufsatz Sie sporten. Sport wird Alltagsmode und
dient zugleich mannigfaltiger Wunschprojektion. Der Wiener Publizist Theodor
Heinrich Mayer lässt in der Novellensammlung Sport einen Sportredakteur in
Tagträume von einem ruhmreichen Athletendasein flüchten:
Kraft. […] Welcher tote oder lebende Dichter nahm es mit Schmeling auf?“ (Klemperer 1989a,
S. 415)
125 Nürnberg 1932, S. 6
126 Ebd.
127 Vgl. Hermand, Trommler 1988, S. 77
128 Vgl. Gamper 1999, S. 152
129 Vgl. Werner 1962, S. 81; Schmeling 1977, S. 86f; Sicks 2005, S. 41ff
130 Breitbach 2006, S. 458
131 Müller 2004, S. 56
132 Mann 1932, S. 331
133 Ebd.
134 Kracauer 2011, S. 524 65
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440