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Es war einfach zum Staunen, wie derselbe Wallner, der eben noch in einem Box-
kampf die stärksten Neger-Champions binnen weniger Minuten niedergestreckt
hatte, nun auf der Radrennbahn die besten Flieger um Radlängen hinter sich ließ
[…]. Die vielen Siege, die er so errang, flossen wie ein kurzer Rausch an ihm vor-
über. Seinen Triumph fühlte er erst ganz, wenn er sich die Berichte […] von Zei-
tungen vorstellte, die von seinen Erfolgen erzählten. […] „Wallner, auch körperlich
das schönste Bild eines Sportsmannes“, stand geschrieben, und er vergaß seines
verkümmerten Leibes, „Wallner, das Genie des Sportes“, hörte er sich loben, […]
„Wallner, die strahlendste Erscheinung aller Zeiten am Sporthimmel …“, begann
ein großer Lobgesang auf ihn, und er fühlte sich als Star ohnegleichen, „Wallner
ist in seiner Vereinigung geistiger und körperlicher Überlegenheit geradezu der
Idealtypus des modernen Kraftmenschen“, schloß ein anderer Artikel über ihn.135
Die „Versportung des Lebens“136 bestimmt die Welterfahrung des bürgerlichen
wie proletarischen Lagers.137 „Die alte Trennung der Stände hört immer mehr
auf“138, registriert der aufmerksame Flaneur Franz Hessel im Essayband Von
der Lebenslust den sozialen Umwälzungsprozess: „Die großen Sportklubs schaf-
fen eine neue Haltung, die das Hackenklappen ehemaliger Gardeleutnants und
die alte Korpsstudentenschneidigkeit ausschließt.“139 Noch 1927 macht der
Münchner Anthropologe Max Scheler in einer seiner Schriften den „Sport-
menschen“140 aus – und kritisiert den modernen Sportbetrieb zugleich (zu die-
sem frühen Zeitpunkt freilich noch zögerlich), dass dieser als Versuch in „nar-
kotisierender Überkompensation von Gefühlen der Ermattung und seelischer
Leere“141 auftrete. Die Figur des Sportlers gerät zum Vorbild des neuen Men-
schen142 und zum Objekt kultischer Verehrung.143 Sportler dienen als Projekti-
onsfläche für Sehnsüchte, Identifikationswünsche, Verehrungsbedürfnisse: Die
„eigentümlich instabile, freischwebende Existenzform“144 des mit vitalistischen
Zügen ausgestatteten Sportlers tritt in den Vordergrund; körperliche Stärke
135 Mayer 1920a, S. 323ff
136 Kühnst 1996, S. 295
137 Vgl. Kaschuba 1997, S. 238; Kohtes 1999, S. 69; Marschik 2009, S. 23ff
138 Hessel 1984, S. 42
139 Ebd.
140 Scheler 1993, S. 419
141 Ebd., S. 420
142 Vgl. Meinhardt 1996, S. 20; Müller 2004, S. 68; Werner 1962, S. 81; Rothe 1981, S. 146; Becker
1993, S. 284
143 Vgl. Kluge 2004, S. 93; vgl. Büttner, Dewald 1992, S. 231: „Boxer sind die ersten Sportindividu-
alisten, die zu Stars der Massen aufstiegen.“
144 Kemper, Vietta 1983, S. 181; vgl. Kolb 2009, S. 22
66 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440