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Berlin, der Metrik des „Explosionsrhythmus“221, den, wie Pinthus ergänzt, „tau-
sendfachen Geräuschen und Aufmerksamkeitsablenkungen“222. Hannes Meyer
spannt in Die neue Welt metaphorische Netze von Licht und Lärm:
Lichtreklamen funken, Lautsprecher kreischen, Claxons[223] rasseln; Plakate wer-
ben, Schaufenster leuchten auf: Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse erweitert maĂź-
los unsern Begriff von „Zeit und Raum“, sie bereichert unser Leben. Wir leben
schneller und daher länger. […] Das optische Bild der heutigen Landschaft ist
vielgestaltiger denn je:Â
Hangars und Dynamohallen sind darin die Dome des Zeit-
geistes. Bestimmend wird ihre EindrĂĽcklichkeit durch die bestimmten Formen,
Lichter und Farben ihrer neuzeitlichen Elemente: der Radioantennen, der Tal-
sperren, der Gitterträger; durch die Parabel des Luftschiffs, das Dreieck der Auto-
warnungstafel, den Kreis des Eisenbahnsignals, das Rechteck der Plakatwand; […]
Schon schmähen unsre Kinder die fauchende Dampflokomotive und vertrauen
sich kühl und gemessen dem Wunder elektrischer Zugkraft. G. Paluccas Tänze,
von Labans Bewegungschöre und B. Mensendiecks[224] funktionelles Turnen ver-
jagen die ästhetische Erotik der Bilderakte. Das Stadion besiegt das Kunstmuseum,
und an die Stelle schöner Illusion tritt körperliche Wirklichkeit.225
Umgeben von Glitzern und GleiĂźen, von Rumor und Radau streift auch Sieg-
fried Kracauer durch Berlin. Die urbanen Lichtfluten, so Kracauer in dem Es-
say Ansichtspostkarte, nähmen „einen Angriff gegen die Müdigkeit“226 vor: „Sie
brüllen, sie trommeln, sie hämmern mit der Brutalität von Irrsinnigen auf die
Menge los.“227 Walter Benjamin nähert sich dem großstädtischen Dasein in
ähnlicher Weise: In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-
barkeit beschreibt er das Leben in der Metropole als eine endlose Folge von
„Chockwirkungen“228. Die Kunstform des Films erscheint Benjamin als die „ge-
steigerte Lebensgefahr“229, der die Zeitgenossen ins Auge zu blicken hätten.
221 Ebd., S. 16
222 Pinthus 1965, S. 130
223 Claxons, Automaten zur Wiedergabe von Beifallsgeräuschen
224 Gret Palucca (1902–1993), deutsche Tänzerin; Rudolf von Laban (1879–1958), ungarischer
Choreograf; Elizabeth Marguerite de Varel Mensendieck (1864–1957), niederländisch-ameri-
kanische Gymnastiklehrerin
225 Meyer 1980, S. 27f
226 Kracauer 2011a, S. 241
227 Ebd., S. 241f
228 Benjamin 1991a, S. 503, Anmerkung 29
229 Ebd.
74 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440